Das Testament des Satans
denkt, was in dieser Nacht alles auf dem Spiel steht.
Wenn dieser Engel der Finsternis das verborgene Dämonenloch mit dem Liber Secretorum Diaboli, dem Buch der Geheimnisse des Satans, findet, steht uns allen eine schreckliche Nacht bevor. Blut wird in Strömen fließen, Hass und Gewalt werden über den Glauben und die Vernunft obsiegen. Dann werden die Siegel zerbrochen und die Posaunen ertönen …
Was tut sie denn jetzt?
Sie küsst das Siegel Gottes, das ihr so viel Macht verleiht.
Wie erstarrt beobachtet der Hüter sie. Sein Gesicht verkrampft sich, die Haut spannt sich über den Knochen. Blut rinnt aus der tiefen Wunde auf seiner Wange.
Noch fünf Minuten – bevor er losschlägt, muss er wissen, was sie vorhat. Fünf Minuten, nicht mehr.
Er spannt die Schultern an, die schmerzen von der Buße vor einigen Stunden. Die Reinigung von der Sünde ist unerlässlich für die heilige Aufgabe, die ihm der Erzengel übertragen hat. Nach der Komplet und dem Beginn des nächtlichen Schweigens hat der Hüter das schwere Kirchenportal hinter sich verriegelt, um sich im dunklen Altarraum vor der Statue von Sant Mikael zu geißeln. Schuld und Sühne. Keine Absolution ohne Buße, keine Vergebung für einen Mord ohne Schmerz und ohne Blut. Auch wenn die Todsünde mit dem Segen des Erzengels für einen noch so heiligen Zweck begangen wird: die Welt vor den Mächten des Bösen zu bewahren und vor der Herrschaft des Satans.
Nach einem Gebet zum Allerhöchsten hat er die ›Disziplin‹ von seinem Gürtel gelöst, die Schultern entblößt und den Strick mit den hineingeknüpften Knoten auf die blutigen Striemen niedersausen lassen, die seit der Buße am letzten Freitag noch nicht verheilt sind. Während er vor Schmerz stöhnte und sich auf die bevorstehende Aufgabe vorbereitete, sang er den 50. Psalm:
»Unser Gott kommt, und er wird nicht schweigen. Feuer lodert vor ihm her, und rings um ihn stürmt es gewaltig. Er ruft dem Himmel und der Erde zu: ›Versammelt mir meine Frommen, die beim Opfer meinen Bund geschlossen haben!‹ Und die Himmel verkünden seine Gerechtigkeit. ›Opfere Gott und erfülle dem Höchsten deine Gelübde!‹«
Unterdessen drang wieder der ekelerregende Gestank von Tod und Verwesung und verbranntem Fleisch in die Kirche und vermischte sich mit dem Duft des Weihrauchs, den der Hüter entzündet hatte. Seit er im Auftrag des Arc’hael Mikael kurz nach dem Einsturz des Chors und seiner wunderbaren Rettung aus den Trümmern den ersten Mord begangen hat, lässt ihn dieser widerliche Gestank des Satans, ein metallischer Geschmack nach Blut, der wie Kupfer auf der Zunge schmeckt, nicht mehr los. Er hängt in seinem Habit, er klebt auf seiner blutigen und eitrigen Haut, ja, er scheint durch die knochentiefen Wunden aus seinem Inneren zu entweichen. Die Läuterung durch den Schmerz der Geißel oder der Nägel, die er sich in Hände und Füße bohrt, um die allerheiligsten Leiden nachzuempfinden, ändert nichts an diesem Selbstekel.
Der Hüter ist ein Auserwählter des Erzengels – und ein Verdammter, denn seine schreckliche Berufung mündet in einem langsamen, qualvollen Sterben. Ein grausames Schicksal, das er ohne Klagen auf sich genommen hat.
Während er Liliths Tochter beobachtet, die immer noch das Sigillum Dei vor sich hält, flüstert er die ersten Worte der Dämonenbeschwörung des Exorzisten: »Vade retro, Satana …«
Seine Finger verkrampfen sich um sein silbernes Brustkreuz. Ein Tropfen Blut tritt aus der tiefen Wunde auf seiner Wange und rinnt ihm über das Gesicht. Mit dem Ärmel seiner Kukulle wischt er ihn fort.
Noch vier Minuten.
Yannic
Kapitel 4
Auf der Terrasse vor dem Dormitorium
Kurz nach halb ein Uhr nachts
»Alessandra muss sterben!«
Ich presse mich gegen die Fassade des Dormitoriums, an dem das Moos hochkriecht, und belausche das Getuschel von Prior Yvain und dem anderen Mönch, das im Fauchen des Sturms kaum zu verstehen ist. Hinter den beiden Schemen, die mir den Rücken zuwenden, schwebt die Insel Tombelaine in der Dunkelheit des Wattenmeeres. Die Prieuré, die die englischen Besatzer zur Festung ausgebaut haben, wird von Fackeln hell erleuchtet.
»Alessandra Colonna … Vertraute des Papstes … mir ein Schreiben Seiner Heiligkeit gezeigt … seine Gesandte, ganz offiziell. Wir … nicht einfach verschwinden lassen … ist die Cousine von Kardinal Prospero Colonna, der im letzten Konklave beinahe Papst geworden wäre … seine von Papst Martin, Gott hab ihn selig …
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