Das Testament
Nicolette.
Die Antwort überraschte Nate erst, doch als er darüber nachdachte, kam sie ihm weniger überraschend vor. Er hätte ohne weiteres geglaubt, dass Troy seine Sekretärin umlegte - das hatte er jahrzehntelang getan. Ebenso konnte er sich vorstellen, dass Nicolette log.
»Keine sichtbaren Muttermale?« fragte Nate erneut.
»Nein.«
Die Phelan-Anwälte beschlich Angst. War es möglich, dass da der nächste ihrer Hauptzeugen vor ihren Augen demontiert wurde?«
»Keine weiteren Fragen«, sagte Nate und verließ den Raum, um sich eine weitere Tasse Kaffee einzugießen.
Nicolette sah zu den Anwälten hinüber. Sie hatten die Blicke auf den Tisch gesenkt und überlegten angestrengt, was für ein Muttermal Troy wohl gehabt haben mochte.
Nachdem sie gegangen war, schob Nate seinen verwirrten Gegnern wortlos ein Foto über den Tisch, das bei der Obduktion gemacht worden war. Es war nicht nötig, etwas dazu zu sagen. Der alte Troy lag auf dem Seziertisch, ein Haufen verwelktes und übel zugerichtetes Fleisch, von welchem dem Betrachter das Muttermal entgegenstarrte.
Sie brachten den Rest des Mittwochs und den ganzen Donnerstag mit den vier neuen Psychiatern zu, die mit dem Auftrag verpflichtet worden waren zu sagen, dass die drei ersten keine Ahnung hatten. Ihre Außage war vorhersehbar und wiederholte immer dasselbe: Kein geistig gesunder Mensch springt über eine Terrassenbrüstung.
Sie waren auf ihrem Gebiet keine solchen Koryphäen wie Flowe, Zadel und Theishen. Zwei waren pensioniert und verdienten sich hier und da als Gutachter etwas hinzu. Einer lehrte an einem nicht besonders angesehenen College, und der letzte schlug sich mit einer kleinen Beratungspraxis in einem Vorort Washingtons recht und schlecht durchs Leben.
Aber man hatte sie auch nicht dafür bezahlt, dass sie Eindruck machten; sie sollten lediglich mit ihrer Außage die Sache noch verworrener erscheinen lassen.
Es war allgemein bekannt, dass Troy Phelan wunderlich und sprunghaft gewesen war. Vier Gutachter erklärten, dass er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und daher kein gültiges Testament hatte abfassen können, drei hingegen sagten das Gegenteil. Wenn man die Sache nur lange genug als kompliziert und verwickelt darstellte, durfte man darauf hoffen, dass diejenigen, die das Testament als gültig ansahen, der Auseinandersetzung eines Tages müde wurden und sich zu einem Vergleich bereit fanden. Falls aber nicht, würde es Aufgabe einer Gruppe fachunkundiger Geschworener sein, sich durch den Wust von Fachbegriffen durchzuarbeiten und zu entscheiden, welche der widersprüchlichen Äußerungen richtig sein mochte.
Die neuen Gutachter bekamen ein großzügiges Honorar dafür, dass sie bei ihrer Meinung blieben, und Nate gab sich keine Mühe, sie davon abzubringen. Er hatte genug Ärzte verhört, um zu wissen, dass es sinnlos gewesen wäre, auf fachlicher Ebene mit ihnen in ein Streitgespräch einzutreten. Statt dessen konzentrierte er sich auf ihre Zeugnisse, Referenzen und Berufserfahrung. Er verlangte, dass sie sich das Videoband ansahen und die drei früheren Psychiater kritisierten.
Als man sich am Donnerstag Nachmittag trennte, waren fünfzehn Befragungen durchgeführt. Eine weitere Runde war für Ende März vorgesehen, und das gerichtliche Verfahren, das die Entscheidung bringen würde, hatte Wycliff für Mitte Juli angesetzt. Dieselben Zeugen würden noch einmal Aussagen müssen, dann aber im Gerichtssaal, wo das Publikum und die Geschworenen jedes ihrer Worte auf die Goldwaage legen würden.
Nate floh aus der Stadt. Er fuhr in westlicher Richtung durch Virginia, dann nach Süden durch das Shenandoah-Tal. Er war wie benommen von den neun Tagen, an denen er rücksichtslos im Privatleben anderer herumgestochert hatte. Zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Leben, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, hatte er unter dem Druck seiner Arbeit und seiner Sucht jedes Schamgefühl und jeden Anstand verloren. Er hatte gelernt, ohne den geringsten Anflug von Schuldbewusstsein zu lügen, zu täuschen, zu betrügen, Versteck zu spielen sowie unschuldige Zeugen in die Enge zu treiben und ihnen erbarmungslos zuzusetzen.
Doch in der Stille seines Autos und der Dunkelheit der Nacht schämte er sich jetzt. Er empfand Mitgefühl für Troy Phelans Kinder, und sogar Snead tat ihm leid, ein trauriger, unbedeutender Mensch, der zu überleben versuchte. Nate wünschte, er hätte die neuen Gutachter nicht so heftig angegriffen.
Er
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