Das Testament
rücken sollten, auch die eine oder andere vertrauliche Angabe durchsickern. Ein Fotograf machte einige Aufnahmen.
Sonderbarerweise stellte Hark seinen Antrag im Namen aller Phelan-Erben und gab ihre Namen und Anschriften an, als wären sie seine Mandanten. Nachdem er in die Kanzlei zurückgekehrt war, faxte er ihnen Kopien des Antrags durch. Wenige Minuten später war bei ihm telefonisch kein Durchkommen mehr.
Der Bericht in der Post vom nächsten Morgen wurde von einem großen Foto ergänzt, auf dem sich Hark mit nachdenklicher Miene den Bart strich. Der Artikel war noch länger, als er es sich erträumt hatte. Er las ihn bei Sonnenaufgang in einem Cafe in Chevy Chase und fuhr dann rasch in seine neue Kanzlei.
Einige Stunden später, kurz nach neun, herrschte im Geschäftszimmer des für den Bezirk Fairfax zuständigen Gerichts ein noch größeres Gedränge von Anwälten als sonst. Sie kamen in kleinen Gruppen, redeten in abgehackten Sätzen auf die Mitarbeiter der Geschäftsstelle ein und gaben sich große Mühe, einander nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sosehr sich ihre Anträge unterschieden, so wollten doch alle ein und dasselbe - im Fall Phelan als zuständig anerkannt werden und einen Blick in das Testament werfen.
Nachlassangelegenheiten wurden im Bezirk Fairfax nach dem Zufallsprinzip unter einem Dutzend Richter verteilt, und so landete der Fall Phelan auf dem Schreibtisch F. Parr Wycliffs. Dieser sechsunddreißigjährige Richter besaß nur wenig Erfahrung auf dem Gebiet, war aber äußerst ehrgeizig und hoch erfreut, einen so wichtigen Fall übertragen zu bekommen.
In seinem Amtszimmer im Gericht beschäftigte er sich den ganzen Vormittag über mit der Akte. Seine Sekretärin legte ihm die Anträge vor, die er sogleich las.
Nachdem sich seine erste Aufregung gelegt hatte, rief er Josh Stafford an, um sich mit ihm bekannt zu machen. Wie es in solchen Fällen unter Juristen üblich ist, unterhielten sie sich höflich, aber steif und zurückhaltend, weil noch wichtige Dinge auf sie zukommen würden. Von einem Richter namens Wycliff hatte Josh noch nie gehört.
»Liegt ein Testament vor?« fragte Wycliff schließlich.
»Ja, Euer Ehren. Ein Testament liegt vor.« Josh wählte seine Worte mit Bedacht.
Es galt im Staat Virginia als Vergehen, ein Testament zurückzuhalten. Falls der Richter wissen wollte, was darin stand, würde Josh ihm das nicht verschweigen.
»Wo befindet es sich?«
»Hier in meiner Kanzlei.«
»Wer ist der Testamentsvollstrecker?«
»Ich.«
»Wann gedenken Sie es vorzulegen?«
» Mein Mandant hat mich gebeten, bis zum fünfzehnten Januar damit zu warten.«
»Hmmm. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«
Der Grund lag auf der Hand. Troy wollte, dass seine habgierigen Kinder noch ein letztes Mal richtig mit Geld um sich warfen, bevor er ihnen den Teppich unter den Füssen wegzog. Es war gemein, grausam und sah Troy nur allzu ähnlich.
»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, sagte Josh. »Es handelt sich um ein eigenhändiges Testament. Mr. Phelan hat es wenige Sekunden unterschrieben, bevor er in die Tiefe gesprungen ist.«
»Ein eigenhändig verfasstes Testament, sagen Sie?« »Ja.«
»Waren Sie nicht bei ihm?«
»Doch. Aber das ist eine lange Geschichte.«
»Vielleicht sollte ich sie erfahren.«
»Vielleicht sollten Sie das.«
Josh hatte viel zu tun. Bei Wycliff war das nicht der Fall, aber er gab sich den Anschein, als sei jede Minute seines Tages verplant. Sie einigten sich darauf, sich zum Mittagessen auf ein paar Sandwiches in Wycliffs Amtszimmer zu treffen.
Sergio konnte sich mit Nates Vorhaben, nach Südamerika zu verreisen, nicht anfreunden. Nach nahezu vier Monaten in einer Einrichtung wie Walnut Hill mit einem genau geregelten Tagesablauf, wo Tür und Tor verriegelt waren, ein bewaffneter Wachmann die Straße anderthalb Kilometer weiter unten im Tal beobachtete, ohne dass man ihn sah, und wo Fernsehen, Filme, Spiele, Zeitschriften und Anrufe einer strengen Zensur unterlagen, geriet die Rückkehr in eine vertraute Umgebung häufig zu einer traumatischen Erfahrung. Die Vorstellung aber, dass jemand diese Rückkehr auf dem Umweg über Brasilien vollziehen wollte, war mehr als beunruhigend.
Nate ließ das kalt. Ihn hatte kein Gerichtsbeschluss in Walnut Hill eingewiesen, sondern Josh hatte ihn hingeschickt, und wenn Josh ihn aufforderte, im Urwald Versteck zu spielen, war ihm das recht. Sergio mochte daran herummäkeln und sich beschweren, soviel er wollte.
Die
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