Das Testament
Ein bißchen Bier und Wein, nichts Stärkeres, und auf keinen Fall Drogen.
Das war vertrautes Gelände; mit diesen Lügen hatte er schon früher gelebt.
Er nahm zwei Tylenol und rieb sich mit Sonnencreme ein. Auf dem Fernseher in der Hotelhalle lief ein Weihnachtsprogramm, aber niemand sah hin. Es gab kein Publikum. Die junge Dame am Empfang lächelte und wünschte ihm einen guten Morgen. Durch die offenen Glastüren kam die lastende klebrige Hitze herein. Nate blieb stehen, um rasch einen Schluck süßen Kaffee zu trinken. Neben der Thermosflasche auf der Empfangstheke warteten die ineinandergestapelten winzigen Papierbecher darauf, dass sich jemand einen Schluck cafezinho gönnte.
Nach zwei Tässchen schwitzte er schon, bevor er die Hotelhalle verließ. Auf dem Bürgersteig versuchte er, einige Dehnübungen zu machen, aber seine Muskeln begehrten heftig dagegen auf, und seine Gelenke waren steif. Rennen kam gar nicht in Frage, es fiel ihm schon schwer genug zu gehen, ohne sichtbar zu humpeln.
Aber niemand sah ihn. Die Läden waren geschlossen und die Straßen menschenleer, wie er es auch nicht anders erwartet hatte. Nach zwei Querstraßen klebte ihm bereits das Hemd am Leibe. Er kam sich vor wie in einer Sauna.
Die Avenida Rondon war die letzte gepflasterte Straße auf dem Felsvorsprung über dem Fluss. Er folgte ihr ein ganzes Stück leicht humpelnd, während sich die Muskeln zögernd ein wenig lockerten und die Gelenke aufhörten zu knirschen. Nach einer Weile fand er sich in dem kleinen Park wieder, in dem er zwei Tage zuvor gewesen war, am dreiundzwanzigsten, als sich die Leute dort versammelt hatten, um sich Weihnachtslieder anzuhören. Einige der Klappstühle standen noch da.
Seine Beine konnten eine Pause brauchen. Er setzte sich auf denselben Picknicktisch wie zuvor und hielt Ausschau nach dem verwahrlosten Teenager, der ihm Marihuana hatte verkaufen wollen.
Aber keine Menschenseele war zu sehen. Er rieb sich leicht die Knie und sah auf das große Pantanal hinaus, das sich vor ihm erstreckte, bis es in den Horizont überging. Eine großartige Ödnis. Er dachte an seine kleinen Begleiter - Luis, Oli und Tomas -, die drei Jungen, die sich für ihre zehn Reais nirgendwo etwas kaufen konnten. Weihnachten bedeutete ihnen nichts; für sie war ein Tag wie der andere.
Irgendwo in dem ungeheuren Schwemmland vor ihm lebte eine gewisse Rachel Lane, zur Zeit noch eine bescheidene Dienerin Gottes, die im Begriff stand, eine der reichsten Frauen der Welt zu werden. Falls er sie fand, wie würde sie auf die Mitteilung von dem ungeheuren Vermögen reagieren? Was würde sie sagen, wenn sie ihn sah, einen amerikanischen Anwalt, dem es gelungen war, sie aufzuspüren?
Die möglichen Antworten auf diese Fragen bereiteten ihm Unbehagen.
Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Troy vielleicht doch verrückt gewesen war. Würde ein vernünftig denkender Mensch jemandem elf Milliarden Dollar hinterlassen, der sich nicht das geringste aus Geld machte? Noch dazu, wenn es sich um einen Menschen handelte, den so gut wie niemand kannte, nicht einmal der Mann, der das eigenhändige Testament unterzeichnet hatte? Dieses Verhalten erschien Nate verrückt, vor allem jetzt, wo er fünftausend Kilometer von zu Hause entfernt den Blick über die Wildnis des Pantanal schweifen ließ.
Man hatte über Rachel kaum etwas in Erfahrung bringen können. Ihre Mutter Evelyn Cunningham war mit neunzehn Jahren aus ihrer Heimat, dem Städtchen Delhi, Louisiana, nach Baton Rouge gegangen. Dort hatte sie bei einer Firma, die sich mit der Erkundung von Erdgasvorkommen beschäftigte, eine Anstellung als Sekretärin gefunden. Troy Phelan, dem die Firma gehörte, hatte Evelyn Anfang 1954 bei einem der Besuche kennengelernt, die er von New York aus von Zeit zu Zeit unternahm. Offenkundig war diese naive Kleinstadt-Bewohnerin eine Schönheit gewesen, und Troy, der es nicht lassen konnte, hatte sich gleich an sie herangemacht. Schon bald darauf war sie schwanger geworden und hatte am 2.
November ihr Kind zur Welt gebracht. Troys Beauftragte in der Unternehmenszentrale hatten unauffällig dafür gesorgt, dass man sie ins katholische Krankenhaus von New Orleans brachte. Sie hatte ihre Tochter Rachel nie zu sehen bekommen.
Unter Aufbietung einer ganzen Reihe von Anwälten hatte Troy dafür gesorgt, dass ein in Kalispell, Montana, lebender Geistlicher und dessen Frau Rachel rasch adoptierten. Da er zu jener Zeit in Montana Kupfer- und Zink-Minen
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