Das Testament
hangelte sich an der Reling entlang neben Welly, weil auch er gern sehen wollte, wohin die Fahrt ging. Aber der Lichtstrahl zeigte nichts als Regen, der so dicht war, dass es aussah, als wirbelte Nebel über dem Wasser.
Dann kamen ihnen ein Blitz zu Hilfe. Mit einem Mal sahen sie das dichtbewachsene Ufer genau vor sich. Der Sturm schob sie unaufhaltsam darauf zu. Welly schrie etwas, und Jevy schrie etwas zurück. Im selben Augenblick prallte eine weitere Bö gegen das Boot und warf es heftig auf die Steuerbordseite. Der plötzliche Ruck riss Welly die Taschenlampe aus der Hand, und sie sahen nur noch, wie sie im Wasser verschwand.
Während sie durchnässt und zitternd am Bootsrand hockten und die Reling mit beiden Händen umklammerten, begriff Nate, dass nur zweierlei geschehen konnte, und auf keins von beiden hatten sie Einfluss. Entweder würde das Boot kentern, oder sie würden ans Ufer geschoben, in den Sumpf, wo die Reptilien hausten. Er hatte kaum Angst. Dann aber fielen ihm die Papiere ein.
Sie durften unter keinen Umständen verloren gehen. Mit einem Mal richtete er sich auf, gerade als das Boot erneut soweit krängte, dass er fast über die Reling ins Wasser gefallen wäre. »Ich muss runter!« schrie er Jevy zu, der das Steuerrad umklammert hielt. Auch der Bootsführer hatte Angst.
Mit dem Rücken zum Wind schob sich Nate Stufe für Stufe nach unten. Das Deck war schmierig und glatt von Dieseltreibstoff. Ein Fass war umgestürzt und leckte. Er versuchte es wieder hinzustellen, dazu aber waren wohl zwei Männer nötig.
Gebückt trat er in die Kajüte, schleuderte sein Regencape in eine Ecke und holte die Aktentasche unter der Matratze hervor. Der Sturm schüttelte das Boot erneut, gerade als sich Nate nicht festhielt. Er stürzte hart zu Boden, und seine Füße strampelten hilflos in der Luft.
Zwei Dinge durfte er auf keinen Fall verlieren: die Papiere und das Satellitentelefon. Beide befanden sich in der Aktentasche, die zwar neu und schön, aber wohl auf keinen Fall wasserdicht war. Er drückte sie an die Brust und legte sich auf seine Koje, während das Unwetter die Santa Loura beutelte.
Das Motorgeräusch hörte auf. Er hoffte, dass Jevy die Maschine abgestellt hatte.
Er konnte die Schritte der beiden unmittelbar über sich hören. Gleich knallen wir aufs Ufer, fuhr es ihm durch den Kopf, und da ist es besser, wenn die Schraube sich nicht dreht. Ein Motorschaden war es sicher nicht.
Das Licht ging aus. Nichts war mehr zu sehen.
Während Nate in der Finsternis dalag, sein Körper den Bewegungen des Bootes folgte und er darauf wartete, dass die Santa Loura ans Ufer geworfen wurde, kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Sofern sich diese Frau weigerte zu unterschreiben, dass sie vom Testament Kenntnis erlangt hatte, oder das Erbe nicht antreten wollte, war es unter Umständen nötig, die Reise noch einmal zu unternehmen. Monate, wenn nicht Jahre später würde jemand, vermutlich er selbst, erneut den Paraguay empor fahren müssen, um die reichste Missionarin der Welt davon in Kenntnis zu setzen, dass alle Formalitäten erledigt waren und das Geld endgültig ihr gehörte.
Er hatte gelesen, dass Missionaren von Zeit zu Zeit ein längerer Heimaturlaub zugebilligt wurde, der ihnen Gelegenheit geben sollte, zu Hause neue Kraft für ihre Aufgabe zu schöpfen. Warum konnte Rachel nicht jetzt einen solchen Urlaub antreten, in die Vereinigten Staaten zurückfliegen - vielleicht sogar mit ihm zusammen - und so lange dort bleiben, bis die Angelegenheiten ihres Vaters geklärt waren? Er würde es ihr vorschlagen, falls es ihm je vergönnt war, ihr zu begegnen. Es schien ihm das mindeste, was sie für elf Milliarden tun konnte.
Ein lautes Krachen ertönte, und Nate wurde zu Boden geschleudert. Sie saßen im Ufergehölz fest.
Die kiellose, flachbödige Santa Loura war wie alle Boote im Pantanal dafür gebaut, über Sandbänke zu gleiten und die Stöße zu ertragen, die das Treibgut im Fluss ihr zufügen mochte. Als das Unwetter vorüber war, ließ Jevy die Maschine wieder anlaufen und bewegte das Boot eine halbe Stunde lang vor- und rückwärts, womit er es allmählich aus dem Sand und Schlamm am Ufer hinausmanövrierte. Als es wieder frei war, beseitigten Welly und Nate Buschwerk und Äste, die sich auf dem Deck angesammelt hatten, und durchsuchten das Innere des Bootes gründlich.
Zum Glück fanden sie keine neuen Passagiere, weder Schlangen noch jacares. In einer kurzen Kaffeepause erzählte Jevy von einer
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