Das Teufelslabyrinth
auf offener Straße zu überfallen. Und dennoch, selbst als er versuchte, wieder hinter der Säule hervorzutreten, hielt ihn etwas - dieses Ding - in seinem Inneren zurück, wollte ihn nicht aus dem Schatten schlüpfen lassen.
War es das? War es nicht er selbst, der Angst davor hatte, gesehen zu werden, sondern dieses Ding , das er in sich spürte und das versuchte, die Oberhand über seinen Willen zu gewinnen?
Die Grüne Linie fuhr ein. Ryan bestieg den Waggon, der vor ihm gehalten hatte, und hätte sich gewünscht, dass da mehr Personen in dem Abteil gesessen hätten als der Penner, der auf einem der hinteren Sitze vor sich hin döste, und der Frau mittleren Alters in der Kellnerinnenuniform einer Fastfood-Kette, die kurz zu ihm hochschaute und sich dann wieder in ihre Illustrierte vertiefte.
Merkwürdig, obwohl der Penner schlief und diese Frau las, hatte er trotzdem das ungute Gefühl, dass ihn jemand beobachtete.
Was war nur mit ihm los? Litt er plötzlich unter Verfolgungswahn? Er wollte doch nur seine Mutter besuchen, er tat doch nichts Verbotenes!
Wirklich?
Plötzlich musste er an den Traum von letzter Nacht denken, in dem er hinter Tom Kelly her gewesen war. Aber das war eben nur ein Traum gewesen. Er würde niemals jemanden umbringen - er war doch nur auf dem Weg in das Krankenhaus, in dem seine Mutter lag.
Und weshalb fürchtete er dann, dass ihn jemand dabei sehen könnte?
Eine halbe Stunde später stieg Ryan aus und lief die Treppe hinauf zur Straße, zwei Stufen auf einmal nehmend. Das Krankenhaus lag nur ein paar Häuserblocks links von der U-Bahn-Station entfernt, und als er sich auf den Weg dorthin machte, spürte er, dass die Paranoia, die ihn plagte, seit er vor knapp einer Stunde in seinem Bett aufgewacht war, langsam einer Art von Erleichterung wich.
Nach weiteren zehn Minuten stand er vor dem Zimmer seiner Mutter im ICU und betrachtete durch die Glasscheibe ihren blassen, zierlichen Körper. Immer noch war sie umgeben von Kabeln und Schläuchen und einem halben Dutzend blinkender Monitore und lag ganz still da. Und während Ryan sie ansah, stieg unvermittelt eine schreckliche Frage in ihm auf:
Was, wenn sie nicht mehr aufwachte?
Wenn sie starb?
Die kalten Finger panischer Angst schlossen sich um seine Kehle. Er schluckte hart, kämpfte nicht nur gegen diese entsetzliche Vorstellung an, sondern auch gegen die Tränen, die ihm in die Augen schossen. Seine Fingerspitzen wurden ganz weiß, so fest umklammerte er den Aluminiumrahmen der Glasscheibe.
Jedes Mal, wenn sein Vater zu einem Einsatz musste, hatte er Ryan beauftragt, gut auf seine Mutter aufzupassen. Doch damals, als sein Vater noch am Leben war, war nie etwas Schlimmes passiert. Und außerdem hatte er immer gewusst, dass seine Mutter auf ihn aufpassen würde, trotz der Worte seines Vaters.
Aber jetzt war alles anders. Etwas ganz Schreckliches war passiert, und er hatte versagt.
Er hatte nicht auf seine Mutter aufgepasst. Er hatte sie enttäuscht, er hatte seinen Vater enttäuscht, und er hatte sich selbst enttäuscht.
Er brauchte seinen Vater. Er musste seinem Vater erzählen, dass er auf seine Mutter nicht hatte aufpassen können, dass die Verantwortung zu groß gewesen war, dass er zu jung dafür war, noch nicht bereit dazu und dass er versagt hatte.
Ein Schluchzer bahnte sich einen Weg durch seine zugeschnürte Kehle und hallte durch den stillen, nächtlichen Krankenhausflur. Tränen verschleierten seinen Blick. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, und plötzlich sah er noch jemanden im Zimmer seiner Mutter.
Eine Gestalt.
Am Bett seiner Mutter stand jemand. Vor einer Sekunde war da niemand im Zimmer seiner Mutter gewesen! Er rieb sich noch einmal über die Augen, schaute nochmals genau hin.
Es war sein Vater! Sein Vater, der neben dem Bett seiner Mutter stand. Groß und aufrecht stand er da, in seiner Ausgehuniform.
Er blinzelte - das war doch unmöglich!
Träumte er denn schon wieder?
Sein Vater schaute ihn an. Ryan blinzelte noch einmal. »Es tut mir so leid«, schluchzte er. »So …«
»Mein Geschenk.«
Die beiden Worte trafen Ryan, als hätte er direkt neben seinem Vater gestanden und nicht fünf Meter von ihm entfernt auf der anderen Seite einer dicken Glastür. Und als er jetzt seinen Vater anschaute, sah er ihn das silberne Kreuz berühren, das er um den Hals trug.
Ryan starrte es an. Das Kruzifix! Das Kruzifix, das seine Mutter ihm schenken wollte, das er jedoch nicht hatte haben wollen. Er
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