Das Teufelslabyrinth
erkannte er die Wahrheit.
Das war keineswegs ein Traum gewesen.
Ryan legte seine erhitzte Wange auf das kalte Porzellan der Toilettenschüssel.
Das war kein Traum gewesen, und er hatte das, was passiert war, auch nicht vergessen, entgegen Pater Sebastians letztem Befehl.
Was passierte hier mit ihm?
Obwohl sich sein Magen wieder beruhigt hatte und die Male auf seinen Handflächen im Dunkeln nicht zu sehen waren, brachte es Ryan nicht über sich, wieder ins Bett zu gehen. Die Erinnerungen oder Fragmente dieses Traums, oder wo immer diese Bilder herrühren mochten, standen ihm noch viel zu deutlich vor Augen, als dass er es riskieren konnte einzuschlafen.
Eigentlich hatte er nur einen Wunsch: Er wollte weg. Raus aus seinem Zimmer, aus dem Schlaftrakt, raus aus diesem Gebäude. Aber wo konnte er hin?
Die Frage war zweitrangig, zuerst einmal musste er weg von hier. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, zog Ryan sich an, schlüpfte aus dem Zimmer hinaus auf den Flur und schnappte sich noch schnell seine Jacke
vom Haken, ehe er leise die Tür hinter sich zuzog. Und während er leise durch den Schlaftrakt schlich, überlegte er fieberhaft, wohin er gehen konnte. Nach Hause konnte er nicht - da war niemand. Aber wohin denn dann?
Zur Polizei?
Gut, aber selbst wenn er eine Polizeistation fände, was sollte er den Beamten erzählen? Was passiert war - oder was er dachte, was passiert war -, klang selbst in seinen Ohren so unwahrscheinlich und verrückt, dass ihm die Beamten niemals glauben würden.
Zu seinem Vater?
Das war der Mensch, mit dem er am liebsten gesprochen hätte. Sein Vater hätte genau gewusst, was er tun sollte.
Aber sein Vater war tot, und seine Mutter lag im Krankenhaus.
Das Krankenhaus! Genau, das war’s - er würde ins Krankenhaus gehen. Vielleicht war seine Mutter ja mittlerweile aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht.
Wach und in der Lage, ihm übers Haar zu streichen und ihn zu beruhigen, dass alles wieder gut würde. Und selbst wenn sie noch nicht aufgewacht wäre, könnte wenigstens er ihr übers Haar streichen.
Der Gedanke an ihre letzte Begegnung, wo sie geschrien hatte und vor ihm zurückgewichen war, obwohl sie nicht einmal bei Bewusstsein gewesen war, ließ Ryan erschaudern.
Etwas stimmte nicht mit ihm. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihm, und zwar genau seit dem Tag, als er in die St. Isaac’s gekommen war. Und heute Abend, nein, jetzt sofort würde er von dort abhauen. Und das Krankenhaus war der einzige Ort, wo er hingehen konnte. Schnell, aber mucksmäuschenstill lief er durch
die Gänge und Flure des alten Schulgebäudes, bis er zu einer Pforte kam, die nach draußen in die Nacht führte.
Der Hof war voller Schatten, und in jedem einzelnen Schatten spürte Ryan etwas Finsteres sich verbergen, etwas Böses auf ihn warten. In Windeseile durchquerte er den Hof, angetrieben von der Angst vor dem, was in den finsteren Ecken auf ihn lauern mochte, als auch davor, auf seiner Flucht ertappt zu werden. Endlich erreichte er den schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden und stand dann etwas atemlos auf der Straße.
Irgendwo in der Ferne schlug eine Uhr elf.
Konnte es wirklich erst eine Stunde vor Mitternacht sein? Seinem Gefühl nach hätte es mindestens drei Uhr morgens sein müssen. Doch ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigte die Glockenschläge.
Schnellen Schritts lief er die Willow und die Spruce Street entlang, wobei er alle paar Meter einen Blick über die Schulter warf, um sicherzugehen, dass Pater Sebastian nicht hinter ihm her war. Doch als er zur Beacon Street kam und die Abkürzung durch den Common zur Park Station einschlug, begann er sich ein wenig zu entspannen. Am Ende der langen Treppe hinunter zur U-Bahn zog er seine Schülerkarte durch den Scanner an den metallenen Drehkreuzen und suchte dann den entsprechenden Bahnsteig auf. Die Grüne Linie würde ihn in unmittelbare Nähe des Krankenhauses bringen, er musste nur drei Stationen weiter fahren, als wenn er zu sich nach Hause wollte. Kurz überlegte er, ob es noch eine schnellere Route geben mochte, entschied jedoch, dass er mehr Zeit vergeudete, wenn er sich die Fahrpläne daraufhin noch einmal ansah.
Als sein Blick zufällig auf eine der Überwachungskameras fiel, flüchtete er sich schnell hinter eine Säule, um
nicht gefilmt zu werden. Obwohl es keine Rolle spielte, wenn er aufgenommen wurde. Schließlich tat er ja nichts Verbotenes - aus der Schule abzuhauen war ja nicht das Gleiche, wie jemanden
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