Das Teufelslabyrinth
Er rannte die Treppe hinauf, zog die Speichertür auf und schaltete die einzelne Glühbirne an, die an einem langen Kabel vom Firstbalken herabbaumelte.
Seine Mutter hatte ihn einmal mit hier hinauf in den Dachboden genommen und ihm das Kreuz gezeigt, das sie in der Truhe seines Vaters aufbewahrte, und über die Kakophonie dieses rasenden Wesens in seinem Inneren hinweg hörte er das Echo der Stimme seiner Mutter, die damals zu ihm gesagt hatte: »Dein Vater hat mir erzählt, dass dieses Kreuz ihm stets dabei geholfen habe, das Richtige zu tun.«
Mühsam gegen das Eigenleben seiner Beine ankämpfend, die sich nicht mehr von ihm kontrollieren lassen wollten, stolperte Ryan hinüber zu der alten Truhe und öffnete den Deckel. Obenauf lag, in Seidenpapier eingeschlagen, die Ausgehuniform seines Vaters - genau die, in der Ryan ihn noch vor kurzem am Bett seiner Mutter hatte stehen sehen. Er wollte sie herausnehmen, wollte seine Wange an den Stoff drücken, nur um die Nähe seines Vaters zu spüren, wagte es jedoch nicht. Wenn er jetzt innehielte, könnte er die Kontrolle über sich verlieren, und das wollte er keinesfalls riskieren.
Er hob die oberste Lade aus der Truhe und stellte sie beiseite.
Wieder begannen die Stimmen in ihm lauthals zu kreischen, und als er in die Truhe griff, um den Deckel des ganz tief unten versteckten Geheimfachs zu öffnen, fingen erst seine Finger, dann die Hände und letztlich sein ganzer Körper an zu zittern, so als ob jeder einzelne Nerv Feuer gefangen hätte. Doch Ryan schaffte es trotz der rasenden Schmerzen, das geheime Fach zu öffnen.
Die Schatulle aus Rosenholz lag genau an derselben Stelle wie zuvor, und als er sich vorbeugte, um sie herauszuheben, spürte er, wie der Dämon in ihm wieder erwachte.
Kaum hatte er die Schatulle geöffnet, da strömte eine Kraft in seine Hände, die Arme hinauf und direkt in sein Herz.
Währenddessen verlor dieses Wesen in ihm die Kontrolle über seinen Körper, und sein Wutgeschrei verebbte zu gewisperten Obszönitäten.
Ryan, der immer noch vor der Truhe kniete, öffnete die Schatulle und schloss seine Finger um das silberne Kruzifix darin. »Was passiert hier mit mir?«, flüsterte er.
»Dad? Sag mir, was hier mit mir geschieht. Sag mir, was ich tun soll.« In der sicheren Erwartung, die Stimme seines Vaters zu hören, schloss Ryan die Augen, doch er vernahm nur die gemurmelten Flüche in seinem Kopf und spürte dabei, dass etwas immer noch darum kämpfte, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen.
Ryan umfasste mit beiden Händen das Kruzifix seines Vaters, beugte sich über die Truhe und atmete tief den Geruch der Uniform ein. Tränen liefen ihm über die Wangen, während der Kampf in seinem Kopf und in seinem Körper und seiner Seele weiter wütete, und es war bereits weit nach Mitternacht, als er schließlich das Haus verließ und sich auf den Rückweg in die St. Isaac’s machte.
Doch der Kampf in ihm war noch nicht entschieden.
58
Pater Laughlin stand am Ende der Spruce Street. Im Common-Park auf der anderen Seite der Beacon Street wimmelte es von Menschen. Abgesehen von den Hunderten von Sonnenhungrigen, die an diesem warmen Frühlingsnachmittag auf Decken und Handtüchern ausgestreckt auf den Wiesen lagen, machten sich überall Arbeiter zu schaffen. Sie errichteten eine riesige Tribüne, auf der später der Altar stehen sollte, an dem der Heilige Vater eine Messe zelebrieren würde, der einzige öffentliche Auftritt in dieser Stadt. Obwohl der Aufbau noch längst nicht beendet war, waren Soundtechniker bereits damit beschäftigt, ein - wie es dem alten Priester vorkam - hoffnungsloses
Durcheinander von Kabeln zu entwirren, während eine dritte Crew etliche Lastwagenladungen Klappstühle entlud und aufstellte, die dann die ersten Besucher okkupieren würden. Nur ein paar wenige Stühle ganz vorne an der Tribüne waren für ihn, den Bürgermeister, für Erzbischof Rand und die Abordnung der St. Isaac’s Academy reserviert. Der Vatikan hatte sich da ganz klar ausgedrückt: Selbst der Gouverneur musste sich selbst einen Platz suchen, sollte er an der Messe teilnehmen wollen. Und angesichts dieser Unannehmlichkeit hatte dieser bereits ausrichten lassen, dass ein unverschiebbarer Termin ihn leider daran hindere, die Messe zu besuchen, wie übrigens auch beinahe alle anderen hochgestellten Persönlichkeiten, die glaubten, eine bevorzugte Behandlung zu verdienen. Und das, so vermutete Pater Laughlin, war die eigentliche Idee hinter
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