Das Teufelslabyrinth
sich ganz dicht an der Wand, so dass man sie von oben nicht sehen konnte, es sei denn, jemand beugte sich über das Treppengeländer und spähte hinunter, und lief eilig weiter nach oben. Ryan folgte ihr bis zum nächsten Treppenabsatz, wo sie kurz verharrte. Nach oben zeigend, formte sie mit den Lippen lautlos das Wort: »Krankenstation!«
Ryan legte den Kopf in den Nacken, spähte hinauf und sah die Umrisse eines Mannes, der das Gewand und die Stola eines Priesters trug und mit dem Rücken zum gemauerten Treppengeländer stand.
Plötzlich wurde es hell da oben; wahrscheinlich hatte jemand in der Krankenstation das Licht angeschaltet. Der Mann drehte sich um, und einen entsetzlichen Augenblick lang rechnete Ryan damit, dass er hinunterschauen würde. Doch stattdessen erblickten sie die Umrisse einer zweiten Gestalt, die der Mann auf seinen Armen trug und die offenbar bewusstlos war. Und obgleich Melody und Ryan nur einen kurzen Blick auf diese Person werfen konnten, wussten beide sofort, wer das war.
Sofia.
Melody hatte Recht gehabt.
Da war etwas ganz und gar nicht in Ordnung.
Und es gab niemand, mit dem sie darüber sprechen konnten.
26
Erzbischof Rand schloss hinter dem letzten Mitglied des Diözesankomitees, das sich mit dem Schutz von Kindern und Jugendlichen befasste, die Tür, kehrte an seinen Schreibtisch zurück und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Er hatte freilich gewusst, dass er mit dem Wiederaufbau der Bostoner Erzdiözese keine leichte Aufgabe übernommen hatte, jedoch nicht mit einer derart mangelnden Kooperationsbereitschaft der verantwortlichen Mitglieder gerechnet. Es schien, als legten es diese Herren ganz bewusst darauf an, jedes seiner Anliegen in endlosen Debatten durchzukauen, die schlussendlich zu keinem Ergebnis führten. Tatsächlich war jeder einzelne Punkt der heutigen Agenda auf nächsten Monat vertagt worden, mit der Begründung, dass zusätzliche Recherchen notwendig seien. Offenbar hofften die Mitglieder, dass sich durch bloße Zeitschinderei die ganze unselige Angelegenheit in Wohlgefallen auflösen würde.
Dem Erzbischof ging das gehörig gegen den Strich. Er wollte Fortschritte machen, wichtige Dinge vorantreiben.
Ein leises Klopfen an seiner Tür veranlasste ihn, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Es war noch nicht einmal neun, und er hatte bereits das Gefühl, einen extrem arbeitsreichen und anstrengenden Tag hinter sich zu haben. »Herein!« Er seufzte, wusste er doch nur zu gut, dass sich das Anliegen, mit dem sein Sekretär draußen vor der Tür wartete, ebenfalls nicht in Wohlgefallen auflösen würde.
Die Tür ging auf, und der Seminarist erschien. »Pater Laughlin von der St. Isaac’s möchte Sie sprechen.«
Der Erzbischof nickte. »Warten Sie bitte noch fünf Minuten, dann führen Sie ihn herein. Und bringen Sie gleich Tee für uns mit.«
Der Priesteranwärter nickte, zog sich zurück und schloss leise die Tür.
Der Erzbischof lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann systematisch, seinen Körper zu entspannen, wobei er bei den Füßen anfing. Er stellte sich beruhigendes blaues Licht vor, das in seinen Beinen nach oben wanderte, seine Hüften durchströmte und weiter durch die Wirbelsäule nach oben drang, bis hin zu dem Wirbelhöcker unterhalb des Hinterkopfes, wo scheinbar alle körperlichen und seelischen Verspannungen zusammenliefen und einen schmerzhaften Knoten bildeten. Indem er die Technik benutzte, die ihm ein indischer Kardinal beigebracht hatte, richtete er den Fokus dieses visualisierten blauen Lichts auf eben diesen Knoten und stellte sich vor, wie dieser sich langsam auflöste und die Spannungen durch seine Arme nach unten flossen und an den Fingerspitzen austraten. Und obgleich er nie ganz begriffen hatte, wie diese Übung funktionierte, stellte er fest, dass er sich anschließend immer sehr vital und entspannt fühlte.
Der Glaube, wusste er, bewirkte eben so vieles.
Als der Seminarist wenig später wieder anklopfte, Pater Laughlin hereinführte und ein Tablett mit zwei Tassen Tee in der Hand hielt, war der Erzbischof erholt und bereit, sich der nächsten Herausforderung zu stellen.
»Wir können endlich einen Erfolg verbuchen«, verkündete Pater Laughlin, sobald sie allein waren.
Der Erzbischof hob skeptisch eine Augenbraue. »Tatsächlich?«
Pater Laughlin nickte eifrig, und als er nach einer der beiden Tassen griff, zitterte seine Hand; ob vor Aufregung
oder wegen seines Alters, konnte der Erzbischof nicht sagen. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher