Das Teufelslabyrinth
Morisco in den Vatikan.«
Der junge Mann nahm den Umschlag an sich und verließ das Büro.
Erzbischof Rand warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Noch mehr Besprechungen. Noch mehr Däumchendrehen. Noch mehr unproduktive Arbeit ohne konkrete Ergebnisse.
Ist es das, was Gott im Sinn hatte, als er den jungen Jonathan Rand zu seinem Diener berufen hatte?
Anscheinend.
Der Erzbischof erlaubte sich, einen Moment lang in Selbstmitleid zu schwelgen, dann trank er seinen Tee und bereitete sich auf das nächste Gespräch vor, während im Nebenraum das Fax ratterte und Pater Laughlins Bericht nach Rom übermittelte.
Melody Hunt stand vor dem Haupteingang der Krankenstation und gab sich alle Mühe, ihren rasenden Herzschlag und die Angst zu zügeln, die mit jedem Schritt die Treppe hinauf zugenommen hatten. Dann konzentrierte sie sich auf ihr Gesicht und setzte eine, wie sie hoffte, besorgte und - sehr viel wichtiger - unschuldige Miene auf. Das Problem war nur, dass Melodys Mutter immer genau merkte, wenn sie etwas verheimlichte, und Melody war sich absolut sicher, dass die Nonne in der Krankenstation mindestens so geschickt darin war, ihr schon beim Eintreten die Schuldgefühle vom Gesicht abzulesen.
Doch trotz aller Mühe fühlte sich ihr Gesicht genau so hölzern an wie immer, wenn sie etwas zu verbergen suchte.
Vielleicht sollte sie lieber auf dem Absatz kehrtmachen und wieder auf ihr Zimmer gehen. Nein! Sie musste Sofia sehen, ganz gleich, was die Nonne in ihrem Gesicht lesen mochte. Außerdem wäre ein Rückzug viel auffälliger als alles, was sich in ihrer Miene spiegeln könnte.
Sie wappnete sich mit einem resoluten Atemzug, stieß die Tür auf und sah zwei Schüler, die kreidebleich und mit blutunterlaufenen Augen im Vorraum hockten und auf die Krankenschwester warteten.
Ohne sich in die Anmeldeliste einzutragen, stellte Melody sich vor den Empfangstresen und verlagerte nervös
ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, während sie darauf wartete, dass eine der Nonnen auftauchte.
Kurz darauf öffnete sich der Vorhang, der den Wartebereich von der eigentlichen Krankenstation abteilte, und Schwester Ignatius erschien in der weißen Tracht einer Krankenpflegerin und zog mit einer raschen Bewegung den Vorhang hinter sich zu. »Melody!«, rief sie aus, wobei sie ganz automatisch mit geübtem Blick den Gesundheitszustand des Mädchens prüfte. »Was machst du hier? Hoffentlich geht hier kein Virus um.«
Melody entspannte sich - zumindest erschien sie längst nicht mehr so nervös, wie sie sich fühlte. »Ich wollte nur fragen, wie es meiner Zimmergenossin geht, Sofia Capelli.«
Die Krankenschwester strahlte sie an. »Ach, wie nett von dir! Aber du hättest auch anrufen können.« Sie warf einen Blick hinüber zu den beiden wartenden Schülern. »Das hier ist nicht gerade ein der Gesundheit zuträglicher Ort«, fuhr sie fort. »Wir hätten dir ohnehin Bescheid gegeben, dass es Sofia gutgeht. Sie hatte nur einen kleinen Schwächeanfall. Niedriger Blutzucker, vermute ich. Manchmal esst ihr Mädchen einfach nicht anständig - ein bisschen mehr Fleisch auf den Rippen könnte euch wirklich nicht schaden.«
Als ob jemand bei dem Essen in St. Isaac’s auch nur ein Gramm abnehmen könnte, dachte Melody bei sich und hoffte, dass Schwester Ignatius nicht wieder ihre Lieblingstirade über die »Erhaltung eines gesunden Körpergewichts« anstimmte, das mindestens zwanzig Kilo über dem Gewicht lag, das Melody jemals auf die Waage zu bringen gedachte. Doch zu ihrer immensen Erleichterung legte es Schwester Ignatius ausnahmsweise einmal nicht darauf an, ihr einen Vortrag in Sachen gesunde Ernährung zu halten. »Möchtest du sie sehen?«
»Darf ich?« Melody fühlte sich augenblicklich besser. Wenn sie Sofia besuchen durfte, konnte es ja nicht so schlimm um sie stehen, oder?
Schwester Ignatius schob den Vorhang weit genug beiseite, dass Melody ins Untersuchungszimmer gehen konnte. Von dort aus führte sie sie in den kleinen Saal mit den zwölf Betten, die eigentliche Krankenstation. In einem der Betten lag Sofia und schlief. Sie trug ein grünes Krankenhausnachthemd, ihre eigenen Kleider lagen ordentlich gefaltet auf dem Stuhl neben dem Bett.
Obwohl sie schlief, hatte ihr Gesicht mehr Farbe als das der beiden Schüler im Wartezimmer; ja, genau betrachtet sah sie nicht viel anders aus als sonst.
Melody wollte ihre Freundin eigentlich nicht wecken, brannte jedoch darauf, zu erfahren, was da letzte Nacht passiert war,
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