Das Teufelsspiel
ein zweiter ziviler Einsatzwagen. Thompson glaubte, auf einem der Dächer eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Ein Scharfschütze?, fragte er sich. Nicht unbedingt, aber da oben war eindeutig jemand, zweifellos ein Cop. Die Polizei nahm diesen Fall wirklich ernst.
Joe Jedermann drehte sich um, ging zurück zu seinem unauffälligen Wagen, stieg ein und ließ den Motor an. Er würde Geduld haben müssen. Es war zu riskant, hier einen Versuch zu unternehmen; er musste auf die richtige Gelegenheit warten. Im Radio lief Harry Chapins »Cat’s in the Cradle« an. Er schaltete es aus, pfiff die Melodie aber leise vor sich hin, ohne eine einzige Note auszulassen oder auch nur einmal nicht den richtigen Ton zu treffen.
Ihre Großtante hatte etwas gefunden.
Roland Bell erhielt in Genevas Wohnung einen Anruf von Lincoln Rhyme, der ihm mitteilte, dass Lilly Hall, Genevas Großtante, im Lagerraum des Hauses, in dem sie wohnte, einige Kartons mit alten Briefen, Souvenirs und diversen anderen Gegenständen entdeckt hatte. Sie wusste nicht, ob sich etwas Nützliches darunter befand ihre Augen waren zu schlecht –, aber die Kisten steckten voller Papiere. Wollten Geneva und die Polizei mal einen Blick darauf werfen?
Rhyme hatte erwidert, er werde alles abholen lassen, aber die Tante hatte gesagt, sie würde das Material nur ihrer Großnichte aushändigen. Sie traute sonst niemandem.
»Auch nicht der Polizei?«, fragte Bell.
»Vor allem nicht der Polizei«, antwortete Rhyme.
Amelia Sachs warf etwas ein, das nach Bells Ansicht den wahren Grund für die Weigerung der Tante darstellte: »Ich glaube, sie möchte bloß ihre Nichte sehen.«
»Natürlich, das wird’s sein.«
Geneva war nur zu gern dazu bereit, was niemanden überraschte. Roland Bell zog es vor, nervöse Leute zu bewachen, Leute, die keinen Fuß auf die Straße setzen wollten und sich am liebsten mit Computerspielen und dicken Büchern zurückzogen. Man steckte sie in einen Innenraum ohne Fenster, ohne Besucher und ohne Dachzugang und bestellte bei einem Bringdienst jeden Tag chinesisches Essen oder Pizza.
Doch Geneva Settle war anders als alle seine bisherigen Schützlinge.
Mr. Goades, bitte … Ich war Zeugin eines Verbrechens und werde von der Polizei festgehalten. Ich bin gegen meinen Willen hier und …
Der Detective benötigte zwei Fahrzeuge zur Unterstützung. Er selbst, Geneva und Pulaski würden in seinem Crown Victoria fahren, Luis Martinez und Barbe Lynch in ihrem Chevy. Während ihrer Abwesenheit sollte ein uniformierter Beamter mit seinem Streifenwagen beim Haus der Settles Wache halten.
Bell fragte, ob Geneva noch etwas von ihren Eltern gehört hatte.
Sie sagte, die beiden würden am Flughafen Heathrow auf ihre Maschine warten.
Als Vater zweier Söhne hatte Bell eine eigene Meinung über Eltern, die ihre Tochter in der Obhut eines Onkels zurückließen und einfach nach Europa reisten. (Vor allem bei so einem Onkel, der dem Mädchen kein Geld fürs Mittagessen mitgab. Das war mehr als schäbig.) Obwohl Bell Alleinerziehender war und einen anstrengenden Beruf ausübte, bereitete er seinen Jungen morgens das Frühstück, packte ihnen Pausenbrote ein und kochte ihnen fast jeden Abend ein warmes Essen, wenngleich es sich nicht immer um die gesündeste Kost handelte (das Wörtchen »Atkins« gehörte nicht zu Roland Bells Küchenvokabular).
Doch sein Job bestand darin, Geneva Settles Leben zu schützen, nicht das Verantwortungsbewusstsein ihrer Eltern anzuzweifeln. Er schob alle persönlichen Gedanken beiseite und ging nach draußen. Seine Hand blieb in der Nähe der Beretta, und sein Blick schweifte über die Fassaden, Fenster und Dächer der umstehenden Gebäude sowie aller Fahrzeuge. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf.
Der angeforderte Streifenwagen traf ein und parkte am Straßenrand, während Martinez und Lynch an der nächsten Ecke in ihren Chevrolet stiegen.
»Alles klar«, sagte Bell in sein Funkgerät. »Es kann losgehen.«
Pulaski kam zum Vorschein, eilte mit Geneva zu dem Crown Victoria und setzte sich neben sie auf die Rückbank. Bell nahm hinter dem Steuer Platz. Dann fuhren die beiden Wagen mit hoher Geschwindigkeit quer durch die Stadt zu einem Mietshaus östlich der Fünften Avenue, mitten in el barrio.
Die Mehrzahl der hiesigen Einwohner stammte aus Puerto Rico oder der Dominikanischen Republik, ein Teil aber auch aus Haiti, Bolivien, Ecuador, Jamaika und Mittelamerika – sowohl Schwarze als auch Nichtschwarze. Darüber
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