Das Teufelsspiel
selbstbestimmtes Sterben. Vor einigen Jahren, als er zuletzt versucht hatte, sein Leben zu beenden, war er noch nicht so unabhängig gewesen wie jetzt. Es hatte weniger Computer gegeben und kein Kontrollsystem oder Telefon, das sich per Spracherkennung bedienen ließ. Je weiter sein Lebensstandard sich erhöht hatte, desto einfacher war es ironischerweise für ihn geworden, sich umzubringen. Der Arzt würde ihm helfen, eine geeignete Vorrichtung an das Kontrollsystem anzuschließen, und sie dann mit Pillen oder einer Waffe bestücken.
Gewiss, es gab inzwischen Menschen in seinem Leben, die es vor einigen Jahren noch nicht gegeben hatte. Sein Selbstmord würde Sachs sehr nahe gehen, aber der Tod war von vornherein ein Teil ihrer Beziehung gewesen. Als überzeugte Polizistin nahm Amelia oft in vorderster Linie an der Festnahme eines Verdächtigen teil, obwohl dazu keine Veranlassung bestand. Ihr furchtloser Einsatz unter Beschuss hatte ihr eine Belobigung eingebracht, und ihr waghalsiger Fahrstil ließ manch einen vermuten, auch sie neige zu selbstmörderischem Verhalten.
Als sie und Rhyme sich vor einigen Jahren kennen lernten – bei einem sehr schwierigen Fall, einem Inferno aus Gewalt und Tod –, hatte er unmittelbar davor gestanden, sich umzubringen. Sachs wusste das.
Auch Thom akzeptierte es. (Rhyme hatte es dem Betreuer schon beim ersten Bewerbungsgespräch gesagt: »Ich bin vielleicht nicht mehr lange da. Sie sollten Ihren Gehaltsscheck immer so schnell wie möglich einlösen.« )
Trotzdem hasste er den Gedanken an das, was sein Tod für sie und andere seiner Freunde bedeuten würde. Ganz zu schweigen von den Verbrechen, die unaufgeklärt bleiben, und den Opfern, die sterben würden, sobald er nicht mehr zugegen war, um die Arbeit zu tun, die einen Großteil seines Wesens ausmachte.
Deshalb hatte er den Test immer wieder aufgeschoben. Falls dabei keine Verbesserung festgestellt wurde, konnte das der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ja …
Die Karte sagt oftmals ein Sichfügen in das Unabänderliche voraus, das Ende einer Auflehnung, die Akzeptanz des Gegebenen.
… oder nein?
Wenn Ihnen diese Karte aufgedeckt wird, sollten Sie auf Ihre innere Stimme hören.
Und in diesem Moment traf Lincoln Rhyme seine Entscheidung: Er würde aufgeben. Er würde mit dem Training aufhören und nicht länger über die Rückenmarksoperation nachdenken.
Falls man keine Hoffnung hegte, konnte sie einem auch nicht genommen werden. Er führte inzwischen ein gutes Leben. Es war nicht perfekt, aber erträglich. Lincoln Rhyme würde sein Schicksal akzeptieren und sich mit dem begnügen, was Charles Singleton abgelehnt hatte: kein vollwertiger Mensch zu sein, ein Dreifünftelmann.
Mehr oder weniger zufrieden.
Rhyme ließ den Rollstuhl mit dem linken Ringfinger kehrtmachen und zurück zum Schlafzimmer fahren. An der Tür kam ihm bereits Thom entgegen.
»Bist du fertig fürs Bett?«, fragte der Betreuer.
»Ja, das bin ich«, entgegnete Rhyme fröhlich.
DRITTER TEIL
Gallows Heights
Mittwoch, 10. Oktober
… Zwanzig
Um acht Uhr morgens ging Thompson Boyd in eine Gasse unweit des Bungalows in Astoria und holte dort den Wagen aus der Garage, in der er ihn tags zuvor nach der Flucht aus der Elizabeth Street abgestellt hatte. Er reihte sich mit dem blauen Buick in den Verkehrsstrom zur Queensborough Bridge ein und wandte sich in Manhattan dann in Richtung uptown.
Die Adresse aus der Nachricht in seiner Mailbox hatte er nicht vergessen. Er fuhr in den Westen Harlems und parkte zwei Blocks vom Haus der Settles entfernt. Bei sich trug er den 22er North American Arms Revolver, seinen Schlagstock und die Einkaufstüte, die heute kein Heimwerkerbuch enthielt, sondern die Vorrichtung, die er am Vorabend zusammengesetzt hatte und nun mit äußerster Sorgfalt behandelte. Langsam ging er den Gehweg entlang und schaute mehrmals beiläufig die Straße hinauf und hinunter. Er sah Leute, die sich vermutlich auf dem Weg zur Arbeit befanden, ungefähr genauso viele Schwarze wie Weiße, die meisten in Anzug und Krawatte. Und Studenten unterwegs zur Columbia University – Fahrräder, Rucksäcke, Bärte … Etwas Bedrohliches sah er nicht.
Thompson Boyd blieb am Straßenrand stehen und musterte das Haus, in dem das Mädchen wohnte.
Ein Stück weiter parkte ein Ford Crown Victoria – es war schlau, das Haus nicht durch das Fahrzeug preiszugeben. Um die Ecke stand neben einem Hydranten
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