Das Teufelsspiel
Neonkreuzen, die zufriedenen Verkäufer, die Hotdogs in angewärmte Brötchen legten, den fetten Mann auf dem billigen Stuhl, mit seiner Zigarette und dem demolierten Mikrofon.
Die hintergehen niemanden, dachte sie.
Die hintergehen nicht die Person, die jahrelang eine ihrer besten Freundinnen gewesen ist.
Keesh kaute beharrlich auf ihrem Kaugummi herum und schloss die rundlichen Finger mit den schwarz und gelb gepunkteten Nägeln fest um den Riemen ihrer Handtasche. Und ignorierte drei Latinos.
»Psssst.«
Sie hörte »Arsch«. Sie hörte »Schlampe«.
»Pssssst.«
Keesh griff in ihre Tasche und nahm das Springmesser. Am liebsten hätte sie es herausschnellen lassen, nur um die Jungs zusammenzucken zu sehen. Aber sie beließ es bei einem wütenden Blick. Die lange scharfe Klinge blieb, wo sie war. In der Schule wartete schon genug Ärger auf sie. Mehr konnte sie wirklich nicht gebrauchen.
»Pssst.«
Sie ging weiter, öffnete nervös ein neues Päckchen Fruchtkaugummi und schob sich zwei Streifen in den Mund. Sie musste sich irgendwie in Rage bringen.
Werd wütend, Mädchen. Denk an alles, mit dem Geneva dich je geärgert hat, an alles, was sie ist und was du nicht bist und auch niemals sein wirst. Die Tatsache, dass Gen so unglaublich intelligent war, dass sie an jedem verfluchten Tag zum Unterricht erschien, dass sie ihre hagere Kleinmädchenfigur behielt, ohne wie irgendeine Aids-Hure auszusehen, dass sie nicht die Beine breit machte und zudem anderen Mädchen riet, genauso prüde zu sein.
Sie führte sich auf, als wäre sie was Besseres.
Aber das war sie nicht. Geneva Settle war auch nur ein Mädchen, dessen Mutter Drogen genommen und dessen Vater die Flucht ergriffen hatte.
Sie war eine von uns.
Werd wütend, weil sie dir ins Gesicht gesehen und gesagt hat: »Du kannst es schaffen, Keesh, du kannst es, du kannst es, du kannst von hier weg, die Welt liegt dir zu Füßen.«
Tja, nein, du Miststück, manchmal kann man es eben nicht. Manchmal ist es einfach zu viel verlangt. Man braucht Hilfe, um klarzukommen. Man braucht jemanden mit dem nötigen Kleingeld, der einem den Rücken freihält.
Und einen Moment lang kochte die Wut auf Geneva in ihr hoch, und sie umklammerte den Riemen ihrer Handtasche sogar noch fester.
Aber sie hielt es nicht durch. Die Wut legte sich und verflog einfach, als wäre es der hellbraune Babypuder, den sie ihren Zwillingscousinen nach dem Windelwechsel auf die kleinen Hintern streute.
Als Lakeesha wie in Trance die Lenox Terrace passierte und auf ihre Schule zusteuerte, wo bald auch Geneva Settle auftauchen würde, begriff sie, dass es weder einen Vorwand noch eine Entschuldigung für das gab, was sie tun würde.
Es ging einzig und allein ums Überleben. Mitunter musste man egoistisch sein und die Hand ergreifen, die einem entgegengestreckt wurde.
Dinge, die man tun muss …
… Siebenunddreißig
In der Schule holte Geneva ihre Hausaufgaben ab, und siehe da, sie sollte einen Aufsatz über Claude McKays Home to Harlem schreiben, das Buch aus dem Jahre 1928, das der erste Bestsellerroman eines schwarzen Autors gewesen war.
»Kann ich nicht lieber was von E. E. Cummings bekommen?«, fragte sie. »Oder von John Cheever?«
»Zurzeit sind die afroamerikanischen Schriftsteller an der Reihe, Gen«, sagte ihr Englischlehrer lächelnd.
»Dann Frank Yerby«, schlug sie vor. »Oder Octavia Butler.«
»Ah, das sind wundervolle Autoren, Gen«, sagte ihr Lehrer, »aber sie schreiben nicht über Harlem. Und das ist nun mal im Augenblick unser Thema, Ich habe dir McKay gegeben, weil ich dachte, er wäre genau der Richtige für dich. Er war einer der umstrittensten Literaten der Harlem-Renaissance. Man hat ihn heftig kritisiert, weil er einen Blick auf die dunklen Seiten Harlems geworfen und die unbarmherzigen Aspekte des Viertels geschildert hat. DuBois und viele der anderen Intellektuellen jener Zeit waren außer sich. Das ist doch ganz dein Fall.«
Womöglich konnte ihr Vater ihr ja bei der Interpretation behilflich sein, da er Harlem und dessen Idiom doch so sehr liebte, dachte sie zynisch.
»Gib dem Buch eine Chance«, bat der Lehrer. »Vielleicht gefällt es dir ja.«
O nein, ganz bestimmt nicht, dachte Geneva.
Draußen vor dem Gebäude gesellte sie sich zu ihrem Vater und ging mit ihm zur Bushaltestelle. Eine eiskalte Windbö wirbelte Staub auf, und sie schlossen beide die Augen. Zwischen ihnen herrschte nun eine Art Waffenstillstand, und Geneva war
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