Das Teufelsspiel
Unkenntnis gewisser Milieus. Ein Spurenermittler konnte nur so gut sein wie sein Wissen über die Umgebung eines Tatverdächtigen – die Geologie, Soziologie, Geschichte, Popkultur, Beschäftigungslage … einfach alles.
Lincoln Rhyme überlegte, wie wenig er über die Welt wusste, in der Geneva Settle lebte: Harlem. Oh, er hatte natürlich die Statistiken gelesen: Die Bevölkerungsmehrheit bestand zu gleichen Teilen aus Schwarzen afrikanischer Abstammung (sowohl alteingesessenen als auch kürzlich eingewanderten) sowie schwarzen und nichtschwarzen Latinos (überwiegend aus Puerto Rico, der Dominikanischen Republik, El Salvador und Mexiko), gefolgt von Weißen und einigen Asiaten. Es gab Armut, und es gab Gangs, Drogen und Gewalt – vor allem im Umfeld der Wohnprojekte –, aber ein Großteil der Gegend war relativ sicher, jedenfalls weitaus sicherer als viele Teile Brooklyns, die Bronx oder Newark. Harlem verfügte über mehr Kirchen, Moscheen, Gemeindeeinrichtungen und Elterninitiativen als jedes andere Viertel der Stadt. Früher hatte es als Hochburg der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sowie der schwarzen und hispanischen Kultur- und Kunstszene gegolten. Heutzutage nahm dort eine neue Bewegung ihren Anfang: die der finanziellen Gleichstellung. Es gab derzeit Dutzende von rentablen Sanierungsprojekten, und Investoren aller Rassen und Nationalitäten wetteiferten darum, sich in Harlem zu engagieren, wozu vor allem der heiß umkämpfte Immobilienmarkt beitrug.
Doch das waren die New-York-Times-Fakten, die NYPD-Fakten. Sie halfen Rhyme kein bisschen dabei zu begreifen, wieso ein professioneller Killer ein halbwüchsiges Mädchen aus Harlem ermorden wollte. Die Suche nach Täter 109 wurde durch diese Einschränkung ernstlich behindert. Er befahl seinem Telefon, eine Nummer zu wählen, und die Software verband ihn gehorsam mit dem FBI-Büro in Downtown.
»Hier Dellray.«
»Fred, ich bin’s, Lincoln. Ich brauche mal wieder Ihre Unterstützung.«
»Konnte mein Freund in Washington Ihnen behilflich sein?«
»Ja, sehr sogar. Maryland ebenfalls.«
»Das freut mich. Moment bitte. Ich muss hier mal jemanden außer Hörweite scheuchen.«
Rhyme war schon einige Male in Dellrays Büro gewesen. Der hoch aufgeschossene, schlaksige schwarze Agent umgab sich an seinem Arbeitsplatz mit anspruchsvollen literarischen und philosophischen Werken – und mit Garderobenständern, auf denen die verschiedenen Verkleidungen hingen, die er als verdeckter Ermittler getragen hatte, wenngleich er inzwischen kaum mehr im Außeneinsatz tätig war. Ironischerweise befanden sich unter den Kostümen auch einige Anzüge von der Stange, die mit ihren weißen Hemden und gestreiften Krawatten dem typischen Erscheinungsbild eines FBI-Mitarbeiters entsprachen. Dellrays üblicher Aufzug war – gelinde gesagt – bizarr: Jogginganzüge oder andere Sportbekleidung in Kombination mit Sakkos, am liebsten in den Farben Grün, Blau und Gelb. Wenigstens trug er keine Hüte, sonst hätte er wie ein Zuhälter aus einem Blaxploitation-Film der siebziger Jahre ausgesehen.
Der Agent kehrte ans Telefon zurück.
»Wie geht’s in der Bombensache voran?«, fragte Rhyme.
»Heute Morgen ist ein weiterer anonymer Anruf eingegangen, wieder mit einer Drohung gegen das israelische Konsulat, genau wie letzte Woche. Leider kann mir keiner meiner Informanten – nicht mal die besten der Jungs – einen konkreten Anhaltspunkt liefern. Allmählich nervt’s. Doch egal, was kann ich für Sie tun?«
»Die Spuren unseres Falls weisen nach Harlem. Haben Sie oft dort zu tun?«
»Gelegentlich. Aber ich bin kein Fachmann für das Viertel. Meine Wurzeln liegen in BK.«
»BK?«
»Brooklyn, ursprünglich das Dorf Breuckelen, gegründet in den vierziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts auf Betreiben der niederländischen Westindischen Kompanie. Die erste formell bestätigte Stadt im Staat New York, wenn’s beliebt. Die Heimat von Walt Whitman. Doch Sie haben wohl nicht das Geld für ein Ortsgespräch investiert, um sich mit solchen Bagatellen abzugeben, oder?«
»Könnten Sie etwas Zeit erübrigen und sich ein wenig auf den Straßen umsehen?«
»Ich werd’s versuchen. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich Ihnen eine große Hilfe sein werde.«
»Nun, Fred, verglichen mit mir dürften Sie dort in Uptown einen beachtlichen Vorteil haben.«
»Schon klar – ich sitze nicht in einem leuchtend roten Rollstuhl.«
»Es sind sogar zwei beachtliche Vorteile«, erwiderte
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