Das Teufelsspiel
dass du vorläufig noch in Harrisburg bleibst. Die Zeiten sind riskant, noch bedrohlicher, scheint mir, als während des Sezessionskriegs.
In dem Monat seit deiner Abreise ist ungeheuer viel passiert. Wie sehr meine gegenwärtige Situation sich doch vom Dasein eines einfachen Farmers und Schullehrers unterscheidet! Ich bin mit Angelegenheiten beschäftigt, die nicht nur kompliziert und gefährlich sind, sondern auch – so möchte ich behaupten – von entscheidender Bedeutung für das Wohlergehen unseres Volkes. Meine Kameraden und ich treffen uns heute Nacht erneut in Gallows Heights, das immer mehr einer belagerten Festung zu gleichen scheint. Die Tage kommen mir endlos vor, die Wegstrecken sind ermüdend. Mein Leben besteht aus Stunden harter Arbeit und Reisen im Schutz der Dunkelheit, all jene meidend, die uns Böses wollen. Ihre Zahl ist groß – und es sind nicht nur einstige Rebellen; auch im Norden stehen viele unserer Sache feindlich gegenüber. Ich erhalte häufige Drohungen, manche verhüllt, andere freiheraus.
Heute Morgen bin ich wieder einmal aus einem Albtraum hochgeschreckt. Ich weiß nicht mehr, welche Bilder meinen Schlaf heimsuchten, doch nachdem ich erwacht war, konnte ich keine Ruhe mehr finden. So lag ich wach bis Tagesanbruch und dachte darüber nach, wie schwierig es ist, dieses Geheimnis für mich zu behalten. Ich sehne mich danach, es der Welt zu offenbaren, und weiß doch, ich kann nicht. Die Folgen seiner Enthüllung wären tragisch, dessen bin ich gewiss.
Bitte verzeih meine schwermütige Stimmung. Ich vermisse dich und unseren Sohn, und ich bin furchtbar müde. Vielleicht wird morgen neuerliche Hoffnung erwachsen. Ich bete dafür, dass dies der Fall sein möge.
Dein dich liebender Charles
3. Mai 1867
»Tja«, sagte Rhyme nachdenklich, »er erwähnt tatsächlich ein Geheimnis. Aber worum geht es dabei? Es muss mit diesen Treffen in Gallows Heights zu tun haben. ›Das Wohlergehen unseres Volkes.‹ Bürgerrechte oder Politik. Davon stand auch schon was in seinem ersten Brief … ›Gallows Heights‹ heißt Galgenhügel. Was, zum Teufel, ist damit eigentlich gemeint?«
Er schaute zu der Tarotkarte. Der Mann darauf hing an seinem Fuß kopfüber von einer Art Galgen.
»Ich sehe mal nach«, sagte Cooper und ging online. Wenig später hatte er gefunden, wonach er suchte. »Gallows Heights war ein Stadtviertel im Manhattan des neunzehnten Jahrhunderts, gelegen an der Upper West Side, rund um Bloomingdale Road und Achtzigste Straße. Aus der Bloomingdale Road wurde später der Boulevard und dann der Broadway.« Er blickte auf und hob eine Augenbraue. »Das ist nicht weit von hier.«
»Wurde Gallows nicht mit Apostroph geschrieben?«
»Nein, zumindest nicht in den Einträgen, die ich hier gefunden habe.«
»Wie viele sind es insgesamt?«
Cooper ließ den Blick über die Internetseite der historischen Gesellschaft schweifen. »Noch zwei. Zunächst mal eine Karte von 1872.« Er drehte den Monitor zu Rhyme, der feststellte, dass das alte Viertel ein stattliches Gebiet umfasste, auf dem sich sowohl einige große Anwesen befanden, die etablierten New Yorker Magnaten und Finanziers gehörten, als auch Hunderte von kleineren Wohnungen und Häusern.
»He, Lincoln, sieh mal«, sagte Cooper und deutete auf einen Punkt neben dem Central Park. »Da steht jetzt dein Haus. Damals war hier ein Sumpf.«
»Wie interessant«, murmelte Rhyme sarkastisch.
»Der andere Treffer ist ein Artikel aus der Times. Er ist letzten Monat erschienen und berichtet von der feierlichen Einweihung des neuen Archivs der Sanford-Stiftung – das ist die alte Villa an der Zweiundachtzigsten.«
Rhyme erinnerte sich an ein großes viktorianisches Gebäude neben dem Sanford Hotel – einem gotisch anmutenden, gespenstischen Apartmentbau, der dem Dakota ganz in der Nähe ähnelte, vor dessen Tür John Lennon ermordet worden war.
»Der Vorsitzende der Stiftung, William Ashberry, hat bei der Feier eine Rede gehalten«, fuhr Cooper fort. »Darin erwähnte er, wie sehr die Upper West Side sich seit damals, als sie noch Gallows Heights hieß, verändert habe. Aber das ist auch schon alles. Konkreter wird’s nicht.«
Zu viele unzusammenhängende Punkte, dachte Rhyme. In diesem Moment meldete Coopers Computer mit einem Piepton den Eingang einer E-Mail. Der Techniker las sie und sah dann die anderen an. »Hört mal her. Es geht um Coloreds’ Weekly Illustrated. Der Kurator des Booker T. Washington College in
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