Das Teufelsspiel
gelangen; aus eigener Kraft hatte Sellitto keinen Finger rühren können.
Tapp … tapp … tapp …
Dann, als es darum ging, Barrys nächste Angehörige zu verständigen, hatte Sellitto sich erneut gedrückt. Er hatte im Laufe der Jahre schon jede Menge dieser schwierigen Anrufe erledigt. Und natürlich war ihm keiner davon leicht gefallen. Aber heute sah er sich dazu einfach nicht in der Lage. Er hatte irgendeine dämliche Ausrede wegen seines Telefons vorgeschoben und jemand anders die Aufgabe übernehmen lassen. Er fürchtete, seine Stimme könnte ihren Dienst versagen. Er fürchtete, er könnte in Tränen ausbrechen, was ihm in all den Jahrzehnten bei der Polizei noch nie passiert war.
Und nun hörte er über Funk von dem vergeblichen Versuch, den Täter zu ergreifen.
Und er hörte: Tapp … tapp … tapp …
Scheiße, ich will nur noch nach Hause.
Er wollte bei Rachel sein, mit ihr in Brooklyn auf der Veranda sitzen und ein Bier trinken. Na ja, es war noch zu früh für Bier. Einen Kaffee. Oder vielleicht war es doch nicht zu früh für ein Bier. Oder einen Scotch. Er wollte dort sitzen und das Gras und die Bäume betrachten. Und reden. Oder gar nichts sagen. Bloß mit ihr zusammen sein. Der Detective musste plötzlich an seinen halbwüchsigen Sohn denken, der bei Sellittos Exfrau lebte. Er hatte den Jungen seit drei oder vier Tagen nicht mehr angerufen. Das musste er unbedingt nachholen.
Er …
Scheiße. Sellitto wurde klar, dass er mitten auf der Elizabeth Street stand und dem Gebäude, das er eigentlich bewachen sollte, gedankenverloren den Rücken zugewandt hatte. Herrgott! Was machst du da? Der Killer läuft hier irgendwo herum, und du träumst mit offenen Augen? Er könnte in einer der Gassen da drüben lauern, genau wie heute Morgen.
Sellitto duckte sich, drehte sich um und musterte die dunklen Fenster mit den schmutzigen Scheiben oder heruntergelassenen Jalousien. Der Täter saß womöglich hinter einem davon und zielte genau in diesem Moment mit diesem widerlichen kleinen Revolver auf ihn. Tapp, tapp … Die Nadeln aus den Geschossen rissen das Fleisch in Fetzen. Sellitto wich schaudernd zurück und ging zwischen zwei geparkten Lieferwagen in Deckung, sodass man ihn von den Fenstern aus nicht mehr sehen konnte. Dann spähte er um die Kante des einen Fahrzeugs herum, beobachtete die schwarzen Scheiben, beobachtete die Tür.
Doch er sah etwas anderes. Er sah die braunen Augen des Bibliothekars, nur ein kurzes Stück entfernt.
Mir war nicht …
Tapp, tapp …
Leben, das zu Leblosigkeit wurde.
Diese Augen …
Er wischte sich die Schusshand an der Anzughose ab und redete sich ein, dass er nur wegen der kugelsicheren Weste schwitzte. Was war das überhaupt für ein beschissenes Wetter? Viel zu heiß für Oktober. Wer würde da nicht schwitzen?
»Ich kann ihn nicht sehen. Kommen«, flüsterte Sachs in ihr Mikrofon.
»Bitte wiederholen«, erklang Haumanns von Rauschen überlagerte Antwort.
»Keine Spur von ihm. Kommen.«
Das Lagerhaus, in das Täter 109 sich geflüchtet hatte, bestand im Wesentlichen aus einem großen offenen Raum, der durch Gitterstege unterteilt wurde. Auf dem Boden standen in Folie eingeschweißte Paletten. Olivenöl in Flaschen, Tomatensoße in Dosen. Der Steg, auf dem Amelia stand, befand sich ungefähr neun Meter darüber und verlief am Rand entlang – auf gleicher Höhe mit der Wohnung des Täters im Nachbargebäude. Das Lagerhaus wurde genutzt, wenngleich wohl nur sporadisch; nichts deutete darauf hin, dass sich hier kürzlich irgendwelche Angestellten aufgehalten hätten. Es brannte keine der Lampen, aber die schmierigen Oberlichter ließen genug Helligkeit durch. Amelia konnte die gesamte Halle überblicken.
Der Boden war sauber gefegt, und sie sah keine Fußspuren, die den Weg des Täters verraten hätten. Unten gab es zwei Tore; eines führte zur Straße, das andere nach hinten zur Laderampe. Außerdem zwei Türen. Auf einer stand WC, auf der anderen nichts.
Sachs arbeitete sich behutsam voran, ließ die Glock hin und her pendeln, leuchtete mit der Taschenlampe alle Ecken aus und hatte schon bald die Stege und den einsehbaren Bereich des Lagerhauses überprüft. Sie meldete dies an Haumann weiter, woraufhin ein ESU-Trupp über die Laderampe in das Gebäude eindrang und sich auf der unteren Ebene verteilte. Amelia war erleichtert, Verstärkung zu bekommen, und wies auf die beiden seitlichen Türen. Die Cops näherten sich vorsichtig.
»Bislang hat hier
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