Das tibetische Orakel
ihn überfallen, und er brauchte unsere Hilfe.«
Gyalo sah ihn abermals durchdringend an und schien etwas fragen zu wollen. »Möge der gesegnete Buddha Padme Rinpoche beschützen«, sagte er statt dessen schnell und überaus förmlich. »In der lhakang wurde für ihn gebetet.«
Shan musterte den Mönch und fragte sich, wieso ausgerechnet Gyalo hier allein den Dung schaufelte. War es eine Strafe? Offenbar hatte der Mönch nicht selbst für Padme gebetet, zumindest hörte es sich so an. Und warum hatten er und die Mönche am Tor den jungen Mann Rinpoche genannt, obwohl dieser Ehrentitel normalerweise für ältere und hochgeschätzte Lehrmeister reserviert war?
»Kommen häufig Ärzte her?« fragte Shan.
Der Mönch runzelte die Stirn. »Diese hier nicht, die sind was Besonderes.«
Er stützte sich auf die Schaufel und sah Shan aufs neue an. »Wo hast du so gut Tibetisch gelernt? Wenn ein Chinese unsere Sprache spricht, arbeitet er meistens für die Regierung.«
»Ich habe tatsächlich mal für die Regierung gearbeitet. Im Straßenbau. Und so einen hatte ich dabei auf dem Rücken«, sagte Shan und deutete auf den Stapel Körbe.
Der Mönch verzog das Gesicht und wies dann auf die Klinik in der anderen Ecke des Geländes. »Diese Gegend war früher berühmt für ihre vielen Lama-Heiler. Daher ändert die Bevölkerung nur sehr langsam ihre Gewohnheiten, löst sich nur zögernd von der Religion und bleibt den chinesischen Ärzten gegenüber skeptisch. Die Regierung möchte sichergehen, daß die Leute nicht krank werden.«
»Oder sich womöglich auf die falsche Weise kurieren lassen.«
Gyalo bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick.
Shan ließ sich die Worte des Mönchs noch einmal durch den Kopf gehen. »Soll das heißen, daß die Wartenden dort drüben gar nicht krank sind?«
Ihm waren zwei Kranke begegnet, erinnerte er sich; eine hatte sich im Salzlager vor den Ärzten versteckt, die andere am Wegesrand gewartet - und Lokeshs Hilfsangebot ausgeschlagen.
»Sie wurden aus den Bergen herzitiert. Um sich impfen zu lassen. Und wegen der Papiere.«
»Papiere?«
»Diese Ärzte sind vor zwei Wochen eingetroffen und einfach geblieben. Oft halten sie in den Büros irgendwelche Sitzungen ab. Manchmal taucht ein pockennarbiger Offizier der Kriecher hier auf, dessen Augen wie schmutziges Eis aussehen. Alle haben sie Funkgeräte wie die Soldaten. Nicht jeder, der in einer dieser blauen Uniformen steckt, ist ein Mediziner. Und auch die echten Ärzte benehmen sich bei der Ausgabe der neuen Gesundheitspässe, als wären es Personaldokumente. Jedermann muß genau angeben, bei wem er während der letzten fünf Jahre in Behandlung war, darunter auch die tibetischen Heiler. Und er muß Papiere aus dem Büro unterschreiben. Wenn dieser Kriecher kommt, läßt er die Leute vorlesen.«
»Vorlesen? Was denn?«
»Irgendwas. Einen Absatz aus dem Faltblatt der Klarheitskampagne. Eine Zeile aus einem der medizinischen Formulare.«
Gyalo schaute stirnrunzelnd zu der anderen Ecke, wo immer noch mehrere der Han-Chinesen in Blau standen. »Anfangs sind einige der Leute freiwillig gekommen. Mittlerweile hat sich das geändert. Die Soldaten stellen Lastwagen zu Verfügung. Oder Männer wie Soldaten, aber mit weißen Hemden.«
Shan starrte den Mönch an. Die Schreihälse trugen mitunter weiße Hemden, aber sie waren keine Soldaten, sondern Politoffiziere des modernen Tibet. »Meinst du etwa Soldaten der öffentlichen Sicherheit, die sich als Schreihälse ausgeben? Als Ärzte?«
»Norbu gompa ist wie ein Grenzposten am Rand der Wildnis, fernab vom Rest der Welt. Ein Ort für Experimente.«
Shan ließ ihn nicht aus den Augen. »In diesem Bezirk werden irgendwelche Versuche angestellt? Versuche politischer Natur?«
»Unsere vorgesetzte Behörde ist das Büro für Religiöse Angelegenheiten. Der Bezirksrat ignoriert uns. Wir sind die Region Norbu des Büros und damit größer als der Bezirk. Das Gebiet reicht im Norden sogar bis über die Berge und in die Provinz Qinghai. Die Leitung erfolgt aus der Zentrale des Büros in der Stadt Amdo und aus den Arbeitsräumen dort drüben.«
Er nickte in Richtung des ersten der zweigeschossigen Gebäude.
Schweigend arbeitete Shan einige Minuten weiter. »Wenn diese Ärzte vor zwei Wochen hier angekommen sind, dann hat das nichts mit dem Mord an dem stellvertretenden Direktor zu tun.«
Gyalo nickte und streichelte den Kopf des Yaks. »Die meisten Leute kennen diesen Tuan bloß als Chef des Büros für
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