Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
der junge Mönch warteten unter den flatternden Fahnen.
    »Worum ging's?« flüsterte Nyma nervös.
    Shan zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Er wollte mir ein paar Zigaretten geben.«
    Der Mönch führte sie in das angrenzende Gebäude, wo in einem großen, weiß gekalkten Raum zwanzig Mönche an zwei langen Bohlentischen saßen. Einige von ihnen grüßten die Besucher höflich, aber zurückhaltend, andere wandten nervös die Blicke ab. Gyalo war nicht anwesend. Ein alter Mönch, der älteste im Saal, stand auf und rezitierte die einleitenden Zeilen eines der frühen Lehrtexte, den die Tibeter als Herzsutra kannten. Seine Worte oder vielleicht auch der Klang seiner tiefen, volltönenden Stimme wirkten beruhigend auf die Versammlung. Doch Shan blieb angespannt. Am liebsten hätte er Lokesh gepackt und wäre weggelaufen. Dieses merkwürdige Gespräch mit dem Direktor ergab für ihn keinen Sinn. Tuan und Khodrak würden etwas gewinnen und dadurch Ruhm erlangen.
    Schließlich betrat Khodrak den Raum und hielt dabei seinen Bettelmönchstab wie ein Zepter. Tuan folgte einen Schritt hinter ihm, und beide trugen sie Fuchsfellmützen. Sie nahmen an einem kleineren Tisch Platz, der am Kopfende der langen Tafeln stand, und kurz darauf brachten zwei junge Mönche einen großen dampfenden Kessel thugpa , Nudelsuppe mit Gemüse. Eilig teilten sie die Suppe aus und stellten dann Schüsseln mit gekochtem weißem Reis auf die Tische. Alle aßen schnell und sprachen nur wenig, wobei die Mönche immerfort ihre Gäste und die beiden Männer am Kopfende beäugten. Im Anschluß an das Mahl wurde chinesischer grüner Tee serviert. Khodrak erhob sich und erklärte, daß Genosse Shan und seine Begleiter Padme gerettet hätten. Genosse Shan. Khodrak hatte den Vorfall in eine politische Parabel verwandelt: Der selbstlose Han half einem Tibeter in Not.
    Danach führte ein Mönch die Besucher zunächst nach vorn, wo sie ihre Habseligkeiten an sich nahmen, und dann zum Gästequartier des gompa , einem Schlafsaal mit acht Betten, der in einem der niedrigen eingeschossigen Bauten untergebracht war. Nyma sollte sich in einen vergleichbaren Raum auf der anderen Seite des Flurs begeben.
    »Wir haben einen alten Stall gesehen und würden gern dort schlafen«, sagte Shan. Seine Gefährten sagten nichts. Lokesh deutete ein kleines Nicken an.
    »Man hat mich angewiesen, euch herzubringen«, protestierte der Mönch. »Die Betten sind doch viel bequemer.«
    »Nicht für uns«, widersprach Shan. »Unsere Knochen sind daran gewöhnt, auf dem Boden zu schlafen.«
    Mit widerwilligem Seufzen wandte der Mönch sich um und führte sie zu dem verlassenen Stall, nur wenige Schritte neben dem Wagen, bei dessen Beladung Shan geholfen hatte. Jenseits des Wagens, im tiefen Schatten der Mauer, spürte Shan mehr, als daß er ihn sah, den großen Yak, der sie beobachtete.
    Der Mönch zog den schweren Holzriegel beiseite, der in einer eisernen Schiene quer über dem Tor lag, und reichte Shan das Talglicht, das er benutzt hatte. Sie betraten einen kleinen muffigen Raum mit einem halben Dutzend Boxen, dessen Boden zur Hälfte von Stroh bedeckt war. Über den Boxen befand sich ein niedriger Heuboden mit kleiner Ladeluke, durch die man einst das Futter nach oben geschafft hatte.
    Lokesh und Lhandro schoben das Stroh sogleich zu einer Bettstatt zusammen, während der Mönch ihnen eine gute Nacht wünschte und die Tür hinter sich schloß. Schon nach wenigen Minuten hörte Shan die langsamen, gleichmäßigen Atemzüge der Gefährten und sank bald darauf ebenfalls in tiefen Schlummer.
    Er erwachte kurz vor Tagesanbruch und fühlte sich merklich erfrischt. Es überraschte ihn, wie ruhig er geschlafen hatte. Schnell klopfte er sich das Stroh von der Kleidung und trat zum Tor. Draußen ertönte das Geräusch eines großen Lastwagens. Shan hielt kurz inne und wollte dann die Tür einen Spalt aufstoßen, um einen Blick auf den Hof zu werfen. Sie ließ sich nicht öffnen. Der Laster schien anzuhalten, und Shan hörte das Trampeln schwerer Stiefel. Er drückte ein Auge an einen schmalen Schlitz im Holz. Da stand einer der Sanitätswagen. Die Signalleuchten blinkten, als handle es sich um einen Notfalleinsatz. Jemand blies eine Pfeife und rief einen Befehl. Im trüben Dämmerlicht konnte Shan keine Gesichter erkennen, aber mit Schrecken sah er eine Reihe weißer Hemden.
    Hinter ihm regte sich jemand. Lhandro trat an seine Seite und versuchte sich an

Weitere Kostenlose Bücher