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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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der Tür. Vergebens. Sie stemmten sich gemeinsam dagegen. Das Tor rührte sich nicht. Jemand hatte den Riegel vorgeschoben. Man hatte sie eingesperrt, und die Wachen umstellten soeben den Stall.

Kapitel 9
    Shan weckte sofort die anderen und berichtete mit hastigem Flüstern von der Gefangennahme. Nyma lief zur Tür, drückte erfolglos dagegen und drehte sich mit angstverzerrter Miene um. Lokesh setzte sich auf und richtete ein Mantra an Tara, die Beschützerin der Gläubigen, während draußen weitere Befehle erteilt wurden.
    Lhandro lauschte an der Wand, und Nyma erweiterte mit der Zinke einer Heugabel einen Spalt im alten Holz, um besser hindurchsehen zu können. »Diese Ambulanz«, sagte sie dann. »Vielleicht wollten die Ärzte bloß.«
    Sie wandte sich um und bemerkte Shans Verwirrung. Er stand im hinteren Teil des Raums an der Stelle, wo Tenzin geschlafen hatte. »Sie haben Tenzin geholt!« rief Nyma entsetzt und eilte zu ihm. Hektisch suchten sie nach einer Spur des stummen Tibeters oder einem Anzeichen für sein Verschwinden. Shan und Lhandro schritten die Außenwand des Stalls ab. Es gab weder lockere Bretter noch weitere Türen oder eine Leiter zum Heuboden, von dem aus die kleine Luke nach draußen führte.
    »Er ist nur ein.«, setzte Nyma verzweifelt an, doch ihre Stimme erstarb.
    Ein was? grübelte Shan. Ein Sammler von Dung? Keiner von ihnen wußte genau, was Tenzin war. Lediglich ein Flüchtling, wie so viele andere. Wenn man sich dem entziehen wollte, was Peking dem tibetischen Volk antat, blieb einem manchmal nichts anderes übrig, als ein Flüchtling zu werden, immer unterwegs, immer fernab jeder Siedlung oder Menschenansammlung. Shan erinnerte sich an die seltsamen Blicke, die Khodrak und Tenzin sich zugeworfen hatten. Wußten Tuan und Khodrak tatsächlich etwas über diesen Mann, oder war der Direktor womöglich nur mißtrauisch geworden? Immerhin hatten zwanzig Jahre bei der öffentlichen Sicherheit seinen Spürsinn geschärft. Tenzin trug an irgend etwas die Schuld, und nach den politischen Maßstäben, die heutzutage herrschten, würden Tuan und Khodrak für seine Ergreifung belohnt werden.
    Auf einmal erklang ein schabendes Geräusch: Jemand zog den Riegel zurück. Dann wurde das Tor aufgestoßen und ließ einen dermaßen hellen Sonnenstrahl herein, daß Shan und seine Gefährten schützend die Hände vor die Augen hoben.
    Direktor Tuan trat ein, gefolgt von einem Han mittleren Alters, der eine jener hellblauen Uniformen trug. Um den Hals des Mannes hing ein Stethoskop, und aus einer seiner Jackentaschen ragte ein kleines Funksprechgerät. Tuan nahm Shan und seine Begleiter kurz in Augenschein und wich dann in den Schatten im Hintergrund des Stalls zurück. Der Arzt verharrte schweigend am Eingang und musterte sie erwartungsvoll. Vor der Tür hielten sich zwei jüngere Männer in den hellblauen Uniformen bereit, als würden sie dem Doktor assistieren wollen. Shan trat einen Schritt zur Seite und sah, daß an der Schulter eines dieser Männer eine zusammengeklappte Trage lehnte. Dann hörte er wieder die schweren Stiefel, mehrere Paare, ohne jedoch den Ursprung erkennen zu können. Soldaten schienen irgendwo in der Nähe der Ambulanz aufgeregt umherzulaufen. Jemand rief einen barschen Befehl. Doch Shan konnte keine Soldaten sehen, nur Männer in weißen Hemden mit Schulterklappen oder den hellblauen Sanitätsuniformen.
    Plötzlich tauchte in der Türöffnung eine schmächtige, schmalschultrige Gestalt auf, deren Silhouette sich vor dem hellen Sonnenlicht abzeichnete. Noch bevor Shan die graue Uniform des Mannes registrierte, erkannte er schon dessen Stiefel. Schaudernd hob er den Kopf und blickte in ein Gesicht, das aus korrodiertem Stahl gehämmert worden zu sein schien. Der Fremde war nicht älter als Mitte Dreißig, ließ aber bereits jene kalte, maschinenhafte Haltung erkennen, die er vermutlich bis zum Ende seiner Laufbahn nicht mehr ablegen würde jenes frostige permanente Hohnlächeln, das Shan während der Jahre seiner Haft so häufig gesehen hatte. Der Mann in Grau war ein Offizier der öffentlichen Sicherheit. Gyalo hatte von ihm erzählt, von dem pockennarbigen Gesicht und den Augen, die wie schmutziges Eis aussahen.
    Der Kriecher betrachtete Shan und seine Gefährten mit reglosem Blick. Dann stieß er ein leises Knurren aus. Es hätte ein Ausdruck der Wut sein können, der Enttäuschung oder auch der unwillkürlichen Vorfreude, wie manche Raubtiere sie beim Anblick einer lange

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