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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erwarteten Beute verspürten. Der Doktor wirkte enttäuscht und ungeduldig zugleich. Stirnrunzelnd sah er den Offizier an und hob vier Finger. Vier Gefangene, sollte das wohl heißen, obwohl es doch eigentlich fünf sein mußten. Und genaugenommen waren es auch nicht vier Finger, sondern drei Finger und der Daumen, denn seltsamerweise hatte der Arzt den kleinen Finger abgeklappt. Der Kriecher reagierte wiederum mit einem Knurren. Seine Faust hob sich um ein paar Zentimeter.
    In Norbu gompa ging etwas Merkwürdiges vor sich. Nicht nur, daß das Kloster sich in den Händen von Politkommissaren befand oder daß man Shan und seine Begleiter festgesetzt hatte. Nein, da war noch etwas anderes: Angehörige des Büros für Religiöse Angelegenheiten benahmen sich wie Soldaten der öffentlichen Sicherheit, ein Schreihals ließ Leute verhaften, und es war nur ein einziger Offizier der Kriecher zugegen. Vielleicht wollten die Schreihälse sich wegen Tenzins Beziehung zu den nagas mit ihm befassen, während die Öffentliche Sicherheit aus einem anderen Grund Interesse an ihm zeigte. Es gab nämlich noch eine Möglichkeit, die Shan als dermaßen erschreckend empfand, daß er sie bisher niemandem gegenüber zur Sprache gebracht hatte. Die Kriecher suchten verbissen nach einem Mann mit krächzender, knurrender Stimme - dem berüchtigten Tiger, dessen verletzter Kehlkopf ihn unverwechselbar klingen ließ. Der Offizier der Kriecher hatte die Leute gezwungen, ihm etwas vorzulesen. Eine solche Stimme konnte nur dadurch verheimlicht werden, daß der Betreffende sich komplett stumm stellte. Shans Verstand arbeitete fieberhaft. Tenzin hatte in der Nacht von Chaos Tod die Einsiedelei verlassen. Die Regierung hielt den purba-Führer Tiger für den wahrscheinlichen Täter. Tenzin kannte mit Sicherheit einige purbas. War ihre gesamte Reise ein Trick der purbas , um den Tiger versteckt zu halten?
    Shan schloß die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Dann wich er einen Schritt zurück, so daß er vor Lokesh stand. So endete es also: in einem dunklen, staubigen Stall, während ihre Peiniger darauf warteten, daß sie sich entweder ängstlich niederkauern oder Widerstand leisten und dadurch eine Tracht Prügel herausfordern würden. Falls Tuan und die Kriecher glaubten, sie hätten dem Tiger Zuflucht gewährt, würde es keine Gnade geben. Ein seltsames Gefühl überkam ihn, eine Art tiefer Entrücktheit, die er wiedererkannte, denn er hatte sie in den Augen der zum Tode Verurteilten gesehen. Exekutionskommandos gingen häufig auf diese Weise vor, wenn die Politoffiziere sich gegen eine öffentliche Hinrichtung entschieden hatten: Sie stellten ihre Opfer im Morgengrauen irgendwo an eine Wand. So würden sie auch mit dem Tiger verfahren, sobald sie ihn zu fassen bekamen. Und womöglich mit allen, die ihm geholfen hatten. Normalerweise kam ein gompa nicht als geeigneter Ort in Betracht, aber dies hier war Khodraks gompa , kein Werkzeug Buddhas, sondern eines der Schreihälse. Und ein Arzt würde über Spritzen verfügen, die für Ruhe sorgten und effektiver wirkten als jede Gewehrkugel.
    Shan bemerkte, daß alle ihn ansahen. Er mußte vor lauter Angst wohl irgendeinen Laut von sich gegeben haben. Langsam wandte er sich zu Lokesh um, dessen Blick angesichts des drohenden Schicksals ebenfalls ins Leere zu starren schien. Er könnte versuchen, seinen Freund in den Schatten zu stoßen und den Offizier anzugreifen, so daß Lokesh in dem folgenden Durcheinander eventuell genug Zeit zur Flucht blieb. Wenigstens befand der chenyi-Stein sich auch weiterhin irgendwo sicher im Gebirge.
    Jemand erschien neben Lokesh. Es war Tuan, der zurück ins Licht kam und Shan fragend ansah, als warte er auf irgendeine Äußerung. Doch dann tauchte ein Schatten im Eingang auf, und eine weitere Gestalt betrat den Stall. Khodrak. Er hatte seinen Stab dabei, und hinter ihm folgte Padme, gekleidet in eine saubere Robe, den Arm in einer Schlinge. Der wütende Blick des Vorsitzenden richtete sich nicht etwa auf Shan, sondern auf den Arzt und den Offizier. Niemand regte sich. Der Kriecher und der Doktor schienen verwirrt zu sein.
    Shan musterte den Mönch, den sie aus Rapjung hergebracht hatten. Padme hielt sich kerzengerade und litt offenbar keinerlei Schmerzen mehr. Er hatte bisher auch nie geklagt, sein Arm sei verletzt worden. Sein Gewand war nicht nur makellos sauber, es besaß zudem den gleichen schmalen Goldsaum wie Khodraks Robe. Shan erinnerte sich an den dritten Stuhl

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