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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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am Komiteetisch und daran, wie die anderen den jungen Mönch mit Rinpoche angesprochen hatten. Das dort am Tisch war Padmes Platz.
    »Manche der Alten können sich in Rauch verwandeln und vom Wind davontragen lassen«, sagte Padme mit schmalem Lächeln zu dem Offizier, der lediglich mürrisch die Stirn runzelte und den Raum verließ.
    Khodrak seufzte und blickte zu dem Heuboden empor. Eine hochgewachsene, starke schlanke Person hätte durchaus dort hinaufklettern und durch die Luke nach draußen gelangen können. Er legte Tuan eine Hand auf den Arm und schien sanften Druck auszuüben. Der Direktor verzog das Gesicht, gab aber nach und ging mit dem Arzt zur Tür hinaus.
    »Es ist ein Versehen, Vorsitzender Rinpoche«, sagte Padme zu Khodrak und sah Shan an. »Diese Leute sind unsere Freunde. Unsere Helden. Wir dürfen nicht zulassen, daß ihnen ein Leid geschieht.«
    Shan war völlig verblüfft. Noch vor wenigen Sekunden hatte ihnen äußerste Gefahr durch die Öffentliche Sicherheit und das Büro für Religiöse Angelegenheiten gedroht, und dann waren Khodrak und Padme gekommen und hatten die Leute einfach weggeschickt.
    »Wo ist er?« rief Nyma. »Ihr habt Tenzin. Warum? Ihr könnt doch nicht einfach.«
    Sie sah erst Padme, Khodrak und dann Shan an.
    Khodrak schien sie gar nicht zu hören. »Nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit«, sagte er und deutete zu Boden. Padme schürzte die Robe, ließ sich mit übergeschlagenen Beinen auf dem Stallboden nieder und zog seine Gebetskette hervor. Er bedeutete Nyma, es ihm gleichzutun, und kurz darauf saßen alle außer Khodrak in einem kleinen Kreis beisammen. Padme stimmte das mani-Mantra an und forderte die anderen mit einer Geste auf, sich dem Gebet anzuschließen, während Khodrak die Sitzenden umrundete und dabei wie ein alter Bettler mit seinem Stab den Weg ertastete.
    Es war eine merkwürdige, beunruhigende Zeremonie. Schon nach wenigen Sätzen verstummte Padme wieder, fuchtelte jedoch weiterhin mit der Hand umher und dirigierte die anderen wie einen Chor. Nyma und Lhandro sagten unbeholfen die Worte auf, während Lokesh und Shan den jungen Mönch nervös musterten. Nach ungefähr zwei Minuten blieb Khodrak stehen. Padme stand abrupt auf und klopfte sich den Staub vom Gewand. Die Worte des Mantras verklangen zögernd.
    »Werden wir ihren Freund finden?« fragte Khodrak.
    »Wir werden ihren Freund finden«, antwortete Padme schnell, als sei dies ein fester Bestandteil der Zeremonie. Dann drehte Khodrak sich um und ging zur Tür hinaus. Der Stab lag quer über seiner Schulter.
    Padme wandte sich an Lhandro. »Es gibt keine Worte, um meine Beschämung auszudrücken«, sagte er zu dem rongpa. »Es war ein Versehen.«
    Der Mönch schaute zum Tor, nickte und sah dann Shan an. »Es ist ein alter Schuppen, der höchstens noch als Lagerraum dient. Jemand könnte versehentlich den Riegel vorgelegt haben, das ist alles«, äußerte er vorsichtig, als wolle er ihnen diese Erklärung des Geschehenen nahelegen. »Das Sanitätsteam ist übereifrig. Diese Leute sind auf extreme Maßnahmen gedrillt, um die Ausbreitung von Krankheiten einzudämmen.«
    Er wartete ab, bis die Ambulanz weggefahren war. Dann drehte er sich erneut zu den anderen um. »Die Küche wird euch mit Reiseproviant versorgen. Ich kümmere mich persönlich darum. Bitte folgt mir.«
    Er trat hinaus ins Sonnenlicht.
    Tuan stand vor einem weißen Geländewagen, neben ihm ein halbes Dutzend Männer in weißen Hemden. Shan musterte ihre harten Mienen. Wären da nicht diese Hemden gewesen, hätte er die Männer für ein Sonderkommando der öffentlichen Sicherheit gehalten, wie sie gegen besonders hartnäckige politische Bedrohungen zum Einsatz kamen - nach Meinung der Verantwortlichen also gegen purbas und andere mißliebige Buddhisten.
    Die Männer beobachteten, wie Shan und seine Gefährten nacheinander den Stall verließen. Einige wandten sich zu Tuan um, der seinerseits Shan nicht aus den Augen ließ und ihn nachdenklich betrachtete. Als Shan den Blick erwiderte, nickte Tuan. Er solle sich schnell entscheiden, hatte der Direktor zu ihm gesagt. Eine Abrechnung stand kurz bevor.
    »Gegenwärtig herrscht überall viel Verwirrung«, stellte Padme fest, als sie sich zehn Minuten später dem Tor des Klosters näherten. Lhandro trug eine große Papiertüte mit Klößen und Äpfeln aus der Küche des gompa.
    »Möge der Mitfühlende Buddha dich beschützen«, rief Lokesh zögernd, als sie das Gelände verließen.
    Padme nickte.

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