Das tibetische Orakel
Stechen in seiner Brust. In der Ferne bewegte sich etwas. Shan kämpfte sich auf die Beine, machte einen Schritt - doch die Welt fing an, sich zu drehen, und er fand sich erst auf Knien, dann auf dem Boden wieder. Abermals umfing ihn Schwärze.
Als er aufwachte, lag er am Feuer auf einer Decke neben Anya. Das Mädchen saß an einen Felsen gelehnt und lächelte matt. Lokesh kniete auf Shans anderer Seite und tupfte ihm mit einem blutigen Lappen die Stirn ab. »Es ist weg«, stieß Shan verzweifelt hervor. »Ich habe das Auge verloren.«
»Unsere Freunde sind losgezogen, um es zu suchen«, sagte Lokesh sanft. Er nahm Shans Hand, drückte sie fest und hielt sie einen Moment lang umschlossen.
Als Shan sich aufsetzen wollte, rauschte das Blut in seinen Ohren. Ihm wurde schwindlig, und er mußte die Augen schließen. Vage registrierte er, daß Leute sich näherten und hastig miteinander flüsterten. Er hörte Hufgetrappel, und in einiger Entfernung rief jemand nach den Hunden. Dann sank er in einen schlafähnlichen Dämmerzustand und wachte am Ende jählings auf.
Es waren mehrere Stunden vergangen. Der Mond ging unter. Nach Shans Schätzung mußte es ungefähr drei Uhr morgens sein. Die Dorfbewohner hatten den verbliebenen Brennstoff dazu benutzt, rund um das Lager ein halbes Dutzend Feuer zu entzünden. Ein Reiter stieg vom Pferd. Lhandro war bei den Schafen und überprüfte ihre Packtaschen. Eines der Tiere saß neben Anya, allein und ohne Gepäck: der braune Widder, der das Auge getragen hatte. Das Mädchen streichelte ihm den Kopf, als müsse das Schaf getröstet werden, weil es die Ängste der anderen teilte.
Lokesh brachte eine Schale Tee, und Shan schaffte es endlich, sich aufzurichten. Der alte Tibeter schüttelte grimmig den Kopf.
»Nichts«, sagte Lhandro, als er einige Minuten später zu Shan kam. »Das Auge ist verschwunden, ebenso der Beutel, in dem es gesteckt hat. Wir hatten zwar einen Wachposten aufgestellt, aber der hat auf dem Pfad nach Verfolgern Ausschau gehalten, und der Dieb muß sich auf einem anderen Weg genähert haben. Wir haben alle umliegenden Hänge abgesucht. Der Mond war sogar hell genug, daß wir die Ferngläser benutzen konnten. Nichts«, schloß Lhandro müde. »Dieses Wesen zündet Tempel an und versucht, Mönche zu ermorden«, sagte er wie als Erklärung für seine Hoffnungslosigkeit. Sein Gesicht schien um viele Jahre gealtert zu sein. Das Auge war weg. Er hatte seine Leute enttäuscht. Lhandro schaute den Hang hinauf und lief dann in die Dunkelheit davon.
»Es ist meine Schuld«, sagte Shan. »Ich habe es aus dem Lager mitgenommen.«
War es tatsächlich der dobdob gewesen? Shan versuchte sich zu erinnern, aber da war nichts außer Finsternis und Schmerz. Er berührte die Beule an seinem Kopf. Ein harter Gegenstand hatte ihn getroffen, möglicherweise der knorrige Stab des dobdob.
»Nein!« widersprach Nyma. »Du hast vermutlich andere vor Schaden bewahrt. Wenn du das Auge nicht an dich genommen hättest, wäre dieser Dieb gewaltsam über uns alle hergefallen.«
Im Verlauf der nächsten beiden Stunden kehrten die Sucher einer nach dem anderen zurück. Nur Dremu, der auf seinem Pferd als letzter eintraf, hatte etwas zu berichten. Unterwegs sei auf dem Hang eine wilde Ziege an ihm vorbeigerannt, als sei sie weiter oben durch irgend etwas erschreckt worden.
Winslow seufzte. »Wenn es die Armee war.«
»Das glaube ich kaum«, fiel Nyma ihm ins Wort. »Dieser Oberst Lin und seine Leute hätten sich nicht heimlich angeschlichen, sondern uns überfallen und in Ketten gelegt, so wie er das neulich schon versucht hat.«
Einige der Dörfler murmelten beifällig, doch Winslow und Shan sahen sich an. Falls Lin von der Anwesenheit des Amerikaners gewußt hatte, wäre es ein schlauer Schachzug gewesen, nur einen einzigen Mann für dieses Kommandounternehmen auszuwählen.
»Falls die Armee das Auge hat, ist es für uns unerreichbar«, sagte Shan. »Aber falls es jemand anders war, können wir es uns vielleicht zurückholen.«
Er warf Lhandro einen erwartungsvollen Blick zu. Der rongpa schüttelte den Kopf, schien jedoch über die Worte nachzudenken und sah Shan neugierig an.
»Aus welchem Grund könnte jemand anders das Auge stehlen wollen?« fragte eine Stimme aus dem Schatten. Gyalo kam zum Vorschein. »Nyma hat mir alles erklärt«, sagte er beiläufig zu Shan, bevor er sich wieder an die anderen wandte. »Shan meint, wir sollten uns Gedanken über das Motiv des Diebs
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