Das tibetische Orakel
sie immer noch geschwächt wirkte, aber ihr Gesicht wies wieder Farbe auf, und ihre Augen leuchteten.
»Was ist geschehen? Wer ist an jenem Tag zu dir gekommen?« fragte Shan.
Die Frau lächelte matt. »Es geht mir besser«, sagte sie, griff nach der mala an ihrem Gürtel aus Yakhaar und stimmte ein Mantra an, um somit Shans Fragen auszuweichen.
Er sah erst sie, dann Lokesh an. Chemi hatte dort bei dem Pfad auf jemanden gewartet. Allein und krank, aber zugleich so sehr von der Ankunft der besagten Person überzeugt, daß sie das Hilfsangebot ausgeschlagen hatte. Ein Heiler war zu ihr in die Berge gekommen, und zwei Tage später hatten Shan und Lokesh in den Bergen einen Heiler gesehen - oder zumindest den Geist eines Heilers.
Sie aßen in der Dämmerung zu Abend. Lokesh und Shan saßen mit Lhandro und einer Kerze im Schutz eines Felsens und studierten die zerfledderte Landkarte des rongpa. Morgen würden sie das Hochgebirge hinter sich lassen und einen Tag darauf in Yapchi eintreffen. Shan vertiefte sich schweigend und beinahe wie in Trance in die Karte und sann gedankenverloren darüber nach, daß sie ihm vielleicht den Aufenthaltsort einer Gottheit verraten würde, sofern er nur wüßte, wie man sie lesen mußte.
Chemi schlief neben dem Feuer unter einer dicken Filzdecke. Lokesh und Gyalo betrachteten den Mond. Tenzin setzte sich auf einen nahen Felsen, so daß seine Silhouette sich vor dem Nachthimmel abhob, und ließ wortlos die mala durch die Finger gleiten. Wenn der Wind abnahm, schauten Lokesh und Shan manchmal zu dem stummen Tibeter und sahen sich dann bedeutungsvoll an. Sie kannten solche Szenen aus dem Gulag, wo die Mönche lernten, ihre Gebete nachts auf den Betten zu verrichten, ohne gegen die strikten Lagerregeln zu verstoßen, die absolutes Schweigen verlangten. Nach Jahren in diesen Baracken hatte Shan begonnen, so etwas wie ein Geräusch von den Mönchen wahrzunehmen. Zuerst hatte er geglaubt, es wären einfach ihre Lippen, die sich berührten, aber später war ihm noch mehr aufgefallen: ein seltsamer leiser Ton wie ein fließendes gleichbleibendes Stöhnen, als hätten seine Ohren sich an ein anderes Klangspektrum gewöhnt, das von den Mönchen dazu genutzt wurde, mit ihren Göttern in Verbindung zu treten.
Auf einmal bellte ein Hund. Lhandro war sofort auf den Beinen und nahm einen der schweren Stäbe. »Von oben kommt jemand«, warnte er Shan und bedeutete ihm, zwischen den Felsen in Deckung zu gehen.
»Yapchi, seid ihr das?« rief eine angespannte Stimme aus der Dunkelheit. Lhandro warf mehr Dung ins Feuer und ging zum Pfad. Zwei Pferde kamen in Sicht. Es gab auch zwei Reiter, aber die saßen beide auf dem vorderen Tier.
»Der golok« , verkündete Lhandro leise. »Was hast du mit unserem Pferd gemacht?« rief er dann Dremu zu.
»Dem Pferd geht's gut«, erwiderte Dremu müde. »Es ist der Amerikaner.«
Shan lief sofort herbei, um den kraftlosen Winslow aus Dremus Sattel zu heben, wo der golok ihn von hinten gestützt hatte.
»Es ist etwas in seinem Kopf«, berichtete Dremu. »Mir war klar, daß er so schnell wie möglich nach unten mußte. Er wollte immer höher. Er dachte, er hätte da oben jemanden gesehen. Aber es war zu hoch für ihn. Er ist aus Amerika.«
Der golok meinte die Höhenkrankheit. Während sie Winslow auf einer Decke am Feuer niederlegten, erklärte Dremu, daß der Amerikaner am späten Nachmittag etwas gesehen habe: einen hellen Lichtreflex, wie von einem Stück Metall oder einem Werkzeug. Als sie auf einem Vorsprung anhielten, um die Stelle durch das Fernglas genauer zu untersuchen, habe der Amerikaner sich wie ein Betrunkener aufgeführt, sei umhergetorkelt und beinahe über die Kante abgestürzt.
So etwas kam bei ausländischen Besuchern Tibets häufig vor, und sogar erfahrene Bergsteiger wurden ohne Vorwarnung davon ereilt. Winslow selbst hatte Shan von den amerikanischen Touristen erzählt, die jedes Jahr an dieser Krankheit starben, weil es zu einer Embolie oder einem Ödem in Lunge oder Hirn kam. Den Betroffenen konnte für gewöhnlich nur dadurch geholfen werden, daß man sie sofort in tieferes Gelände brachte.
Winslow schlug zitternd die Augen auf. »Pillen. Ich habe Pillen«, stieß er keuchend hervor. »Hab sie bei den Packpferden zurückgelassen.«
Kurz darauf hatte Shan den Rucksack des Amerikaners und darin eine kleine Glasflasche gefunden, auf deren Etikett »Diamox« stand. Er verabreichte Winslow zwei der weißen Tabletten mit etwas Tee. Wenige
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