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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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»Meine Großmutter wurde auch heimgesucht«, sagte er sanft. »Wir sollten uns auf die Ankunft vorbereiten.«
    Dann stimmte er ein leises Mantra an, in das die anderen sofort einfielen. Shan ertappte sich dabei, daß er sein gau umklammerte.
    »In meinen Bergen«, sagte Anya auf einmal, »in meinem Herzen, in meinem Blut.«
    Es klang wie Anya, wenngleich wie eine müde, verwirrte Anya. Es konnte irgendein Traum sein. Vielleicht war das Mädchen einfach nur erschöpft von der Reise und im Schlaf zusammengebrochen, so daß sie sich nun unbewußt eines ihrer Geisterlieder vorsang.
    Anya hörte auf zu zittern und schien zu erstarren. Dann wirkte sie ganz friedlich und redete weiter. »Tief ist das Auge, das strahlendblaue Auge, die nagas werden es behüten.«
    Shan fröstelte. Winslow keuchte auf und wich zurück. Dies war nicht Anyas Stimme. Sie klang krächzend, trocken, alt und gleichzeitig hohl, als würde sie durch einen langen Schacht an ihre Ohren dringen.
    Neben Shan bewegte sich etwas. Lhandro schrieb eifrig die Worte des Orakels auf. Die Stimme hallte in Shans Kopf wider. Sie sprach von dem Auge. Aber das Auge war nicht blau.
    »Verbindet sie, verbindet sie, verbindet sie, ihr müßt es waschen, um sie zu verbinden!« krächzte die Stimme weiter. »So viele tot. So viele todgeweiht«, sagte sie traurig. Über dem Lager hing eisiges Schweigen. Lhandro blickte leichenblaß von seinem Zettel auf.
    »Wer wird sprechen, wenn der Singvogel weg ist?« fragte die Stimme. Dann kam nichts mehr. Nach diesem abschließenden Satz schien Anya, obgleich sie ausgestreckt am Boden lag, irgendwie in sich zusammenzusacken. Alle warteten stumm und reglos, als hätten die Worte sie gelähmt. Nyma starrte in Anyas Augen, als würde sie nach dem Mädchen suchen. Lokesh nickte langsam, und Nyma fing an, sich auf den Knien vor und zurück zu wiegen. Gyalo nahm eine Schale Wasser und wusch Anyas Gesicht. Niemand sprach. Lokesh stimmte wieder das Mantra an. Lhandro starrte auf den Zettel und reichte ihn dann an Shan weiter, als würde dieser wissen, was die Worte zu bedeuten hatten. Shan starrte auf die hastig hingekritzelten Notizen und konnte sie nicht entziffern. Aber er hatte genau zugesehen und wußte daher, daß Lhandro die letzten Worte des Orakels nicht mehr mitgeschrieben hatte. Wer wird sprechen, wenn der Singvogel weg ist? hatte die Stimme gefragt.
    Sie warteten fast eine Stunde, bis Anya wieder zu sich kam. Das Mädchen rieb sich die Augen, als würde es aus einem tiefen Schlaf erwachen, und deutete plötzlich nach oben. Eine leuchtende Sternschnuppe schoß über den Himmel, so nah, daß sie es hören konnten.
    »Die Yapchi-Gottheit, deren Auge ihr habt, und dieses Orakel - ist das ein und dasselbe Wesen?« fragte Winslow leise. Das Ereignis hatte ihn sichtlich mitgenommen. »Ich meine mir ist klar, daß es eigentlich gar keine.«
    Seine Stimme erstarb. Daß es eigentlich gar keine Gottheit im Tal geben konnte, hatte er sagen wollen. So wie er noch vor kurzem bezweifelt hatte, daß ein Orakel existierte.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte Shan unschlüssig. »Vermutlich nicht.«
    Weder er noch Winslow schienen ihre Gefühle in Worte fassen zu können. Weil sie beide im wesentlichen nichts als Verwirrung empfanden, mutmaßte Shan.
    Nach einer Weile borgte Shan sich die Taschenlampe des Amerikaners, nahm den Beutel mit dem roten Kreis und ging hinaus zu den Schafen. Er fand einen flachen, vom Mond beschienenen Felsen, setzte sich und trennte die Naht des Beutels auf. Dann holte er zum erstenmal seit ihrem Aufbruch vom Lamtso den chenyi-Stein heraus. Er hielt das Auge in der Hand und starrte den im Dunkeln undeutlichen Farbklecks an, ohne so recht den Grund dafür zu wissen. Wenigstens würde er sich auf diese Weise besser konzentrieren und sein Bewußtsein ergründen können, ganz wie Gendun es ihn gelehrt hatte.
    Hinter Shan rieselten ein paar lose Kiesel herab. Als er sich umdrehte, sprang ein Schatten vor, und ein harter Gegenstand traf seinen Kopf. Er stürzte benommen nach vorn, und noch während ihm allmählich schwarz vor Augen wurde, erkannte er schemenhaft und wie aus großer Entfernung, daß jemand ihm in die Rippen trat.

Kapitel 10
    Das Auge von Yapchi war weg. Shan suchte mit schmerzverzerrter Miene den mondhellen Fleck ab, an den er es hingelegt hatte, und tastete mit einer Hand vergeblich nach dem Stein. Dann richtete er sich ein Stück auf, um einen Blick in die Runde zu werfen, und verspürte ein heftiges

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