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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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berichtete Winslow, während Shan sich aufsetzte und das eigene Fernglas aus dem Beutel zog.
    Kurz darauf hatte auch er die fernen Gestalten entdeckt, die soeben in den tiefen Schatten eines angrenzenden Felsüberhangs liefen. Er sah kein Fahrzeug, keinen Hubschrauber, keinen Truppentransporter. Und was noch viel seltsamer war: Er sah auch kein brennendes Gebäude, keinen alten chorten , keinen Schrein, der ein Sprengkommando angelockt haben könnte. Er schaute zu Anya, die sich bis zur Kante vorgeschoben hatte.
    »Die Armee stöbert immer noch manchmal Widerstandskämpfer auf«, sagte Chemi leise. »Und oft wollen die purbas sich dann nicht gefangennehmen lassen. Außerdem gibt es Banditen.«
    Es klang fast hoffnungsvoll. Meinte sie Dremu? Hatte sie ihn irgendwoher erkannt? Shan hatte es nicht gewagt, den Verdacht zu äußern, der ihm nach dem Überfall als erstes durch den Kopf geschossen war. Hatte womöglich der golok die Soldaten auf ihre Fährte geführt? Verfolgte Dremu, was das Auge anging, eigene Interessen? Immerhin schien er mit diesem Berg einen merkwürdigen Privatkrieg auszufechten.
    Tenzin verzog das Gesicht und sah Shan gequält an. Der Tibeter wurde von den purbas unterstützt, was vermutlich bedeutete, daß irgendwo auf dem Weg nach Yapchi jemand auf ihn warten würde und eventuell bereits aufgebrochen war. Dann schaute Tenzin verwirrt über Shans Schulter hinweg. Als Shan sich umdrehte, sah er Lokesh, der mit ausgestrecktem Finger nach oben wies. Der alte Tibeter schien eine imaginäre Linie durch die Landschaft zu beschreiben. Er zeigte erst auf die lange graue Bergkette am Horizont, die gleichzeitig die Provinzgrenze darstellte, dann nach unten in Richtung Rapjung und zu dem hohen breiten Kamm im Nordosten des Klosters, danach auf die vielen Gratlinien, die in der tiefen Schlucht unter ihnen endeten.
    Lokesh griff in die Tasche und holte daraus ein Stück Papier hervor, eine der Broschüren der Klarheitskampagne. Während die anderen ihm schweigend zusahen, fing er an, das Papier mehrfach zu falten. Nach etwa einer Minute hielt er es dem Berggipfel entgegen. Es war eine kleine Figur, ein Pferd. Im Verlauf ihrer Reisen hatte Shan seinem Freund schon häufig bei der Anfertigung solcher Papierpferde geholfen. Als der alte Tibeter nun flüsternd zu dem Tier sprach und es dem Wind überlies, nickten Chemi und Anya wissend.
    Sie sahen, wie das Papier über den Abgrund hinausgetragen wurde und langsam in Richtung der Grate trieb. »Man nennt sie Geisterpferde«, erklärte Shan dem Amerikaner, der ziemlich verwirrt dreinblickte. »Es ist eine alte Tradition. Wenn man ein solches Tier mit einem Gebet losschickt, wird es sich einen Reisenden in Not suchen und sich in ein richtiges Pferd verwandeln, sobald es den Boden berührt.«
    Shan wandte sich wieder Lokesh zu und begriff auf einmal, woran sein alter Freund dachte. Es mochte da unten keine purbas geben, aber sie beide wußten, wer sich mit Sicherheit dort aufhielt. Ein Lama-Heiler. Kein Geist, denn Chemi war von einem echten Heiler aufgesucht worden, dem Alten, auf den sie gewartet hatte. Er sah zu der kleinen zähen Frau, die sie alle führte. Sie hatte nicht erklärt, was an jenem Tag vorgefallen war, aber sie wirkte nun besorgt und einen Moment lang ganz zerbrechlich, so wie neulich am Wegesrand. Plötzlich deutete Tenzin nach oben. Sie blickten auf und sahen ein bharal , eines der seltenen blauen Bergschafe. Es schien mitten in der riesigen Felswand zu hängen.
    Ein Ausdruck ruhiger Stärke legte sich auf Chemis Gesicht. »Es zeigt uns den Weg«, sagte sie ehrfürchtig und ging den Pfad hinauf, ohne sich noch einmal umzuwenden. Noch lange, nachdem die anderen außer Sicht verschwunden waren, harrte Shan mit dem Fernglas aus und beobachtete das Gelände unter ihnen. Ein Rabe flog über die Schlucht. Ein großes dunkles Tier, wahrscheinlich ein wilder Yak, lief über einen der Grate. Doch nichts deutete auf einen Lama-Heiler oder auf irgendwelche Soldaten hin.
    Sie stiegen immer höher. Bisweilen wirbelten Schneeflocken um sie herum, wenngleich keine einzige Wolke am Himmel hing. Anyas Gehbehinderung ließ sie zweimal ausrutschen, so daß Kiesel über die Kante des schmalen Pfades geschleudert wurden und dann in die Tiefe hinabstürzten.
    Breite und Richtung des Wegs änderten sich fortwährend; manchmal war es kaum mehr als ein Spalt im Gestein, durch den sich allenfalls ein wildes Schaf zwängen konnte. Abrupt endete der Pfad vor einer fast

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