Das tibetische Orakel
ungern annehmen zu wollen.
»Wir werden den anderen mit den Schafen helfen, Jampa und ich. Wir möchten uns dieses Tal von Yapchi gern mal anschauen. Du kannst es mir dort zurückgeben.«
Sobald der östliche Himmel die Farbe von Wacholderrauch angenommen hatte und die hohen Gipfel in purpurgraue Schatten gehüllt wurden, brachen sie auf. Über ihnen schrie ein Vogel, und Winslow neigte lauschend den Kopf. Kurz darauf blökte eines der Schafe, als wolle es dem Vogel antworten. Dann rief noch ein Schaf und noch eines, bis mindestens ein Dutzend Tiere im Chor blökten. Es klang, als würden sie den Verlust des Steinauges beklagen.
Chemi ging voran und folgte anfangs keiner erkennbaren Route, sondern einer Reihe von Felsvorsprüngen und steilen Geröllhängen, über die sie in einer Stunde den eigentlichen Weg erreichen würden, wie die Tibeterin versprach. Nach einigen Minuten drehte sie sich um und wies auf einen Reiter, der dem tiefer gelegenen Pfad folgte, den die Karawane einschlagen würde. Es war Dremu; er ritt als Kundschafter der Dorfbewohner voraus. Shan starrte dem golok hinterher, bis der um eine Biegung verschwand. Dremu befand sich nun auf dem Berg Yapchi, dem Berg, den er haßte.
Es war rauhes Gelände. Mehr als einmal rutschte Lokesh auf den Hängen aus und fiel auf die Knie. Der Amerikaner blieb einige Male stehen und hielt sich den Kopf, konnte aber jedesmal weitergehen und wieder zu der hastig voraneilenden Chemi aufschließen. Es war, als würden sie vor etwas fliehen. Shan musterte die Gestalten, die vor ihm gingen. Winslow, der tags zuvor beinahe an der Höhenkrankheit gestorben war. Anya, die dem Orakel unter großen Strapazen als Medium gedient hatte. Chemi, die beim ersten Zusammentreffen vor einer Woche mehr tot als lebendig gewesen war. Manche der alten Buddhisten hätten wohl angemerkt, daß das Rad ihres Karmas sich derzeit besonders schnell drehte.
Als sie Chemi eine Stunde später um die scharfe Kurve eines steilen Serpentinenpfades folgten, registrierte Shan weiter unten eine Bewegung. Jemand folgte ihnen. Tenzin. Shan war nicht überrascht. Tenzin hatte von ihnen allen vermutlich die dringendste Veranlassung zur Flucht.
Sie erreichten den Hauptweg und stiegen noch eine weitere Stunde empor, bis Chemi eine kurze Rast einlegte. Im Süden konnte man von hier aus mehrere hohe breite Bergkämme überblicken, die zur Ebene der Blumen führten. Chemi deutete auf ein braunes Stück Land, das zwischen zwei der nördlichen Gipfel bereits zu erahnen war. »Die Provinz Amdo«, sagte sie trotzig. »Keiner von uns nennt dieses Gebiet Qinghai, das steht bloß auf den chinesischen Landkarten. Auf der anderen Seite«, sagte sie mit Blick auf die gewaltige Felswand, die vor ihnen aufragte und den Gipfel des Bergs Yapchi darstellte, »verläuft ein langer gewundener Pfad hinab in eine Schlucht und weiter zu der Ebene, auf der meine Familie lebt. Von da aus dauert es noch eine weitere Stunde, bis man hinter dem nächsten Kamm das Tal von Yapchi erreicht.«
Shan starrte auf die gigantische Steilwand und erinnerte sich daran, wie dieser Berg schon von der anderen Seite der Ebene aus den Horizont dominiert hatte und von Dremu verflucht worden war. Einschließlich der zahlreichen Ausläufer, die sich in Richtung der Hauptkette des Kunlun erstreckten, nahm der Berg eine Breite von mehr als dreißig Kilometern ein. Seine Nordflanke verlief nach Amdo hinein und umschloß das Tal der rongpas.
Winslow nahm sein Fernglas und suchte die Hänge ab. Anya stand dicht neben ihm und spielte an ihrem Armband herum.
»Ein Ziegenpfad führt dort hinauf«, sagte Chemi und deutete auf die scheinbar unüberwindliche Barriere. »Man kann ihn nur schwer entdecken.«
Ein Geräusch aus der Ferne unterbrach sie. Ein Gewehrschuß, dachte Shan zunächst, aber als der gleiche Knall zum zweitenmal ertönte, wurde ihm klar, daß es sich um etwas Größeres handeln mußte. Explosionen - wie von Artilleriefeuer oder Granaten. Das Geräusch erklang ein weiteres Mal, und Winslow deutete auf drei Rauchwolken, die in etwa anderthalb Kilometern Entfernung von einem der unteren Grate aufstiegen. Shan und die Tibeter ließen sich sofort zu Boden fallen, um nicht entdeckt zu werden. Ob nun Artillerie oder Granaten - Explosionen bedeuteten, daß die Armee in der Nähe war. Anya zog an Winslows Hosenbein. Der Amerikaner suchte hektisch das Gelände ab und stellte dabei mehrmals die Schärfe der Linsen nach.
»Drei Leute, vielleicht vier«,
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