Das tibetische Orakel
Minuten später öffnete der Amerikaner die Augen und bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis: das Zeichen für »Okay«.
Shan und Lokesh setzten sich zu ihm, während er gierig eine Schale Tee trank. »Tut mir leid«, sagte Winslow. »Das kommt vor. Eigentlich keine große Sache, außer daß ich diesmal am Rand eines hundertfünfzig Meter tiefen Abgrunds stand, als es losging. Dieser Bursche da«, sagte er und deutete auf Dremu. »Er hat mir das Leben gerettet.«
Die Worte schienen Lhandro zu verwirren, denn er hatte dem golok stets mißtraut. Nun stand der rongpa zögernd auf, goß eine Schale Tee ein und gab sie Dremu. Der golok streckte zögernd die Hand aus und nahm den Tee mit verunsicherter Miene entgegen.
Als müsse er seine Behauptung nachdrücklich untermauern, griff Winslow nach seinem Rucksack und holte daraus umständlich den kleinen Metallkocher hervor. Dann rief er Dremu zu sich und überreichte ihm das Gerät. »Ich habe nur diese eine Ersatzpatrone«, entschuldigte sich der Amerikaner und gab dem golok auch noch den kleinen blauen Zylinder, den Shan bei Winslows Habseligkeiten gesehen hatte.
Dremu starrte mit großen Augen den Kocher an, lächelte, musterte im nächsten Moment ernst den Amerikaner und lächelte erneut. »Du hast mir das Leben gerettet«, wiederholte Winslow laut, als wolle er sichergehen, daß alle es hörten. »Ich stand am Rand der Klippe, als sich mit einem Mal alles drehte. Dann weiß ich nur noch, daß ich über dem Abgrund lehne und Dremu meinen Gürtel gepackt hat und wie ein Yak daran zerrt. Ohne ihn wäre ich jetzt tot.«
Völlig unerwartet machte sich allseits eine zufriedene Stimmung breit. Der Amerikaner war dem sicheren Tod entronnen. Chemi, eine neue Freundin, war geheilt und nach Hause unterwegs. Gyalo, der tapfere Mönch, hatte beschlossen, die erste Nacht seines neuen Lebens bei ihnen zu verbringen. Shan, Lokesh, Winslow, Lhandro und Gyalo saßen in ihre Decken gehüllt beisammen, beobachteten den Mond und freuten sich alle paar Minuten über eine Sternschnuppe.
Plötzlich hallte ein qualvolles Stöhnen durch die Dunkelheit. Winslow zog sofort seine Taschenlampe hervor. Lhandro nahm seinen Stab. Lokesh griff nach seiner mala.
Shan lief auf das Geräusch zu. Es war Nyma. Sie saß über Anya gebeugt und stieß schluchzend ein hastiges Mantra hervor.
»Sie hat sich schon den ganzen Nachmittag unwohl gefühlt. Einmal mußte sie zitternd am Wegesrand anhalten, aber es ging wieder vorbei. Sie hat mir erzählt, daß nun alles wieder in Ordnung ist und daß es manchmal überhaupt nichts zu bedeuten hat, daß er vielleicht gar nicht aufwacht, daß es mitunter einfach vorkommt und nichts geschieht, als habe er etwas Übles geträumt, würde aber weiterschlafen.«
Shan erschauderte. Nyma meinte das Orakel, den Gott, der durch das junge Mädchen sprach.
»Aber sieh sie dir an.«
Anya wurde am ganzen Körper von heftigen Zuckungen geschüttelt und klammerte sich an Nymas Hand fest. Ein Blutrinnsal lief darunter hervor, weil die Fingernägel des Mädchens sich in das Fleisch der Nonne gruben.
»O Gott!« rief Winslow und warf Shan einen hilflosen Blick zu. »Sie muß Epileptikerin sein. Das ist ein Anfall. Stecken Sie ihr etwas in den Mund, um ihre Zunge zu schützen.«
»Ihr Zunge darf auf gar keinen Fall gehindert werden«, sagte Lhandro ernst und hob eine Hand, als wolle er den Amerikaner zurückhalten.
Shan zog Winslow beiseite und versuchte ihm zu erklären, was nach Ansicht der Tibeter soeben mit Anya geschah.
»Ein Orakel?« rief Winslow erzürnt. »Verflucht, sie ist ein kleines Mädchen. Die können doch nicht ernsthaft glauben.«
Seine Stimme erstarb, denn er sah das mittlerweile halbe Dutzend Tibeter mit feierlichen, sogar verängstigten Mienen rund um das Mädchen sitzen und abwarten. Trotz der Zuneigung, die sie alle für Anya empfanden, unternahm niemand den Versuch, ihr zu helfen. Lhandro lief zu den Packtaschen und kehrte mit Bleistift und Papier zurück.
»Herr im Himmel!« flüsterte Winslow. Verunsichert starrte er die Tibeter an, die sich mit Butterlampen um das Mädchen scharten. »Meine Güte, Shan, man darf doch nicht einfach.«
Er verstummte und trat ein Stück näher, als wolle er immer noch eingreifen, damit das Mädchen sich nicht selbst verletzte.
Shan wußte nicht, was er glauben sollte, aber er hatte keinen Zweifel an der Überzeugung der Tibeter. Er und der Amerikaner konnten nur zusehen.
Gyalo saß neben Anyas Kopf.
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