Das tibetische Orakel
senkrechten Felswand. Chemi ging weiter, fand irgendwo dürftigen Halt, zog sich hoch, hüpfte von einem Vorsprung zum nächsten und wurde dabei lediglich von vereinzelten abgewetzten Stellen am Stein geleitet, die unzählige Ziegen im Verlauf vieler Jahrhunderte hinterlassen hatten. Winslow blieb oft stehen, um zu trinken. Bei zwei Gelegenheiten nahm er Tabletten ein. Sie kamen an Schneefeldern vorbei, und einmal flatterte unversehens ein leuchtendweißer Vogel aus einem Felsspalt.
»O Mann«, sagte Winslow immer wieder, wenn er innehielt, um entweder die Hände an die Schläfen zu drücken oder seine Karte zu Rate zu ziehen. »Viereinhalbtausend verdammte Meter«, verkündete er ungläubig, klagte aber nicht, als Chemi sie immer noch weiter nach oben führte. Alle fünf Minuten mußte er keuchend eine Pause einlegen, um wieder zu Atem zu kommen. Wenn Shan ihn besorgt ansah, grinste er nur, schüttelte den Kopf und ging mit großen Schritten weiter, als wolle er seine Kraft unter Beweis stellen. Sie befanden sich auf dem langen ungeschützten Pfad, auf dem sie das bharal gesehen hatten, einem siebzig Zentimeter schmalen Steig über einer dreihundert Meter tiefen Schlucht, als der Amerikaner stehenblieb und sich gegen die Felswand lehnte. Anya, die dicht vor ihm ging, kam zurück und nahm Winslows Hand, während Shan sich langsam von hinten näherte.
»Alles wird gut«, sagte das Mädchen leise und sanft, als würde es mit den Schafen sprechen. »Halt meine Hand, und das Yakarmband wird uns beide beschützen.«
Der Amerikaner drehte sich zu Shan um. Dann sackte ihm der Kopf auf die Brust, und er verdrehte die Augen, als sei ihm schwindlig. Anya drückte ganz fest seine Hand, wie um ihn daran zu erinnern, daß sie bei ihm war, und Winslow richtete sich wieder auf. Mit ernster Miene ließ er sich von dem Mädchen führen.
Sie hatten zwei Drittel des tückischen Ziegenpfades hinter sich gebracht, als Chemi aufstöhnte und eine Hand hob. Die anderen erstarrten. Sie lauschte in Richtung Norden und wich langsam zurück. Kurz darauf konnten alle es hören: ein dumpfes metallisches Rattern, das zusehends näher kam.
»Ein Hubschrauber!« rief Winslow. Anya zerrte ihn zu einem Schatten in der Felswand. Nein, das war kein Schatten, erkannte Shan, als die beiden sich seitwärts wandten und nacheinander eintraten. Es war ein schmaler Spalt, der womöglich ihnen allen Schutz bieten konnte, bis der Helikopter vorübergeflogen sein würde. Aus diesem Grund wich Chemi zurück sie hatte den Spalt ebenfalls bemerkt. Das Rattern wurde lauter. Chemi drehte sich um und lief den Pfad hinunter. Tenzin half Lokesh in das Versteck und schloß sich ihm an, während Shan sich dem Schatten näherte.
Er wartete einen Moment, bis Chemi sich nur noch zehn Meter entfernt befand, dann trieb der Rotorenlärm ihn hinein. Obwohl seine Gefährten den Spalt erst vor wenigen Sekunden betreten hatten, konnte er keinen von ihnen sehen. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten, erkannte er, daß dies mehr als eine simple Felsspalte war - es war eine schmale gewundene Passage, die steil nach oben führte. Auf dem Pfad sah er die Hufspuren von Bergtieren. Nach fünf Metern wurde ihm klar, daß dieser Riß in der Kuppe des Berges sich viele Dutzend Meter in die Höhe erstreckte und fast bis zum Gipfel reichen mußte.
»Das war kein Militärhubschrauber«, sagte eine Stimme hinter ihm. Chemi stand dort und schaute bei diesen Worten hinaus ins Tageslicht. »Und er flog so tief, als würde er die Grate absuchen, auf denen die Bomben explodiert sind.«
Shan ging ein Stück weiter. Von seinen Gefährten war immer noch nichts zu entdecken.
»Sind sie etwa abgestürzt?« fragte Chemi beunruhigt. »Sie können doch nicht einfach verschwunden sein.«
Zehn Meter vor ihnen fiel Sonnenlicht bis auf den Boden. Shan hielt vorsichtig darauf zu, während Chemi nach Anya rief. Niemand antwortete. Es gab überhaupt kein Geräusch. Kein Wind fegte durch die Kluft. Kein Vogel flatterte vorüber. Kein Wasser tröpfelte herab. Chemi zupfte an Shans Ärmel und deutete entsetzt auf den breiten Riß im Boden, der vor ihnen von der Sonne erhellt wurde. Sie traten bis zum Rand vor und sahen nur unendliche Schwärze. Shan warf einen Kiesel hinein und hörte nichts.
»Einer ist vielleicht ausgerutscht, und als die anderen ihm helfen wollten, sind sie auch abgestürzt«, vermutete Chemi erschrocken. »Und ein solcher Sturz würde ewig dauern« fügte sie hinzu, als wäre
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