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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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das Loch tatsächlich bodenlos.
    Shan wich unwillkürlich zurück und erschauderte vor dem bloßen Gedanken.
    »Sie sind fort«, stöhnte Chemi und hob voll tiefer Trauer den Blick zu dem winzigen Stück Himmel über der Kluft empor.
    Shan hielt sich an einem Felssockel fest. Nach einem Moment wurde ihm klar, daß er Riefen ertastete. Er bückte sich, blies den Staub aus den Rillen und goß dann ein wenig Wasser über den Sockel. Die Einschnitte gewannen sogleich an Konturen und hoben sich dunkel von der grauen Oberfläche ab. Es war eine eingemeißelte tibetische Inschrift. Vergiß nicht , las er, wir bestehen zur Gänze aus Licht. Es war eine Variation der uralten Lehre, nach der die Essenz des Lebens Erleuchtung und somit absolutes Bewußtsein war.
    Verwirrt blickte Shan auf. Hinter dem Lichtfleck schlängelte der Pfad sich zu einem dunkleren Schatten in der Ferne. Shan hörte ein leises Geräusch, das von einem Tier stammen konnte, und wagte sich vor. Er gelangte zu einer kurzen Steigung, neben der eine Reihe kleiner Steine am Boden lag. Sie waren merkwürdig glatt und flach, als habe man sie geschmolzen und gefaltet. Er kniete neben einem davon nieder und berührte ihn. Das war kein Stein, den er da unter den Finger spürte, sondern Staub. Verwirrt hob Shan den Gegenstand auf und erstarrte, als er sah, daß es sich um ein verdrecktes Stück Stoff handelte. Es war eine seidene lungta , eine ursprünglich rote Gebetsfahne, auf der man das mani-Mantra und ein kleines Pferd abgebildet hatte. Der Schmutz bröckelte wie eine Eisschicht davon ab, und Shan fragte sich ehrfürchtig, wie viele Jahrzehnte es in dieser windstillen Kluft wohl gedauert haben mochte, bis sich eine derartige Kruste gebildet hatte. Nicht Jahrzehnte, eher Jahrhunderte. An der Fahne hatte man ein fachmännisch geflochtenes Stück Seil aus Yakhaar festgenäht, dessen Enden mittlerweile verrottet waren. Shan musterte die Reihe winziger Hügel, ein jeder eine staubbedeckte lungta. Sie verlief in gerader Linie zu dem Sockel mit der Aufschrift. Dort hatte man einst das Seil befestigt, das andere Ende an der Wand hinter ihm, im finstersten Teil des Schattens, vermutete Shan; nicht um die Fahnen weithin sichtbar am Himmel flattern zu lassen, sondern um damals womöglich Besuchern den Weg zu weisen. Er stand auf und ging tiefer in den Berg hinein. Am dunkelsten war es in einem Winkel, in dem zwei Wände aufeinandertrafen. Es gab dort so etwas wie einen Schatten im Schatten. Und wieder dieses Tiergeräusch.
    Shan hielt auf die schwärzeste Stelle zu und stieß auf einen schmalen Höhleneingang. Chemi folgte dicht hinter ihm. Er tastete sich etwa drei Meter vor und gelangte an eine scharfe Biegung. Trübes Licht war zu sehen, und dann stolperte er beinahe über Anya, die auf dem Steinboden saß und entrückt vor sich hin murmelte, als würde sie eines ihrer Lieder anstimmen wollen. Ein Stück weiter stand Winslow mit seiner Taschenlampe und betrachtete kopfschüttelnd eine Wand. Nur Lokesh bewegte sich. Der alte Tibeter schritt mit leuchtenden Augen den Rand der Kammer ab, die sie entdeckt hatten, und stieß immer wieder Freudenlaute aus. Auf einem Sims am anderen Ende des Raums, ungefähr sechs Meter von Shan entfernt, lagen mehr als zwei Dutzend längliche Gegenstände, verteilt auf vier Stapel, oben und unten jeweils mit einem hölzernen Deckel versehen, in Stoff eingeschlagen und mit Seidenstreifen verschnürt. Die obersten Exemplare auf jedem Stapel waren in Rosenholz eingefaßt und mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die teils Blumen und Blätter, teils wilde Tiere zeigten.
    Als Shan an Lokeshs Seite trat, nahm sein alter Freund den Einband eines der schachtelähnlichen Gegenstände ab, öffnete mit zitternden Fingern die Schleifen und schlug den Stoff beiseite. Es war ein peche , ein tibetisches Buch, das traditionell aus langen losen Seiten bestand und zwischen zwei Holzdeckeln verschnürt wurde. »Die Gyuzhi«, las Lokesh flüsternd, sah dann seine Gefährten an und erklärte, daß die Gyuzhi - oder Vier Tantras - zu den berühmtesten medizinischen Lehrtexten gehörten und vor tausend Jahren niedergeschrieben worden seien. Er nahm das erste Blatt, las es schweigend und deutete dann auf die Zeilen in der Mitte der Seite. »Wenn jemand oft sündigt, unwürdige Gedanken hegt oder Seelenqualen nicht zu kontrollieren vermag, droht ihm die Inbesitznahme durch Elementargeister.«
    Er blickte auf und grinste. »Damit sind die Ursachen einer

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