Das tibetische Orakel
Geisteskrankheit gemeint.«
Seine Aufregung wich allmählich einer feierlichen Ehrfurcht. Er legte das Blatt zurück, verschloß das Buch und nahm drei weitere Exemplare auf gleiche Weise in Augenschein. Winslow trat vor und leuchtete ihm schweigend mit der Taschenlampe.
»Ein Lehrbuch über heilende Steine«, beschrieb Lokesh den Inhalt des ersten Bandes. Das nächste Buch widmete sich den Heilkräften der Feuerelemente. Das dritte schilderte, wie man mit Hilfe der Sterne die günstigsten Tage zur Herstellung von Medizin ermittelte. Es war im selben Jahr verfaßt worden, in dem man mit dem Bau von Rapjung gompa begonnen hatte.
Schließlich hob Lokesh den Kopf und schluckte vernehmlich. »Sie haben gedacht, wir wußten nicht.«, setzte er an, aber die Gefühle übermannten ihn. Seine Hand schloß sich um das gau , das er um den Hals trug, und er warf einen dankbaren Blick auf das thangka , das direkt über den Büchern hing. Auf dem Gemälde war ein blauer Buddha abgebildet, der eine Bettelschale hielt und mit der ausgestreckten rechten Hand eine gebende Geste vollführte. Vaidurya, der Heilende Buddha. »Wir dachten, manche dieser Bücher seien auf ewig verlorengegangen.«
Die purbas führten eine Chronik der chinesischen Greueltaten, das sogenannte Lotusbuch, in das sie Shan bereits mehrere Einblicke gestattet hatten. Es enthielt Einzelheiten über zerstörte gompas , ermordete Lamas, verschwundene Schätze und über all jene Chinesen, von denen man wußte, daß sie an der Vernichtung eines Großteils des traditionellen Tibet mitgewirkt hatten. Manchmal wurden auch tibetische peche aufgelistet, denn die Texte waren stets von Hand vervielfältigt und daher nie in größerer Anzahl verbreitet worden. Einige dieser Bücher existierten nur in den gompas , in denen man sie geschrieben hatte, und zählten dort zu den am höchsten verehrten Reichtümern. Als die Volksbefreiungsarmee und die Roten Garden die Klöster Tibets zerstörten, löschten sie damit nicht nur die Texte aus, sondern auch alle, die den Inhalt der peche kannten. Im Lotusbuch stand verzeichnet, daß man aus den hölzernen Druckstöcken riesige Scheiterhaufen errichtet hatte, während das Papier der Bücher zur weiteren Verwendung in die Latrinen der Soldaten abtransportiert worden war. Die als verloren bekannten peche wurden im Lotusbuch als »tot« aufgeführt, verbunden mit einer kurzen Inhaltsangabe, die wie ein Nachruf klang und häufig die letzte Erwähnung des Lebenswerks eines vor Jahrhunderten verstorbenen Lehrmeisters darstellte.
An der Wand neben den peche hingen an einem Balken, der in einem Riß der Höhlenwand steckte, vier weitere thangkas. Lokesh seufzte erneut und erklärte dem Amerikaner in respektvollem Flüsterton die Bedeutung der einzelnen Bilder. »Der König des Lapislazuli«, sagte er mit Blick auf das erste Gemälde und erläuterte, daß es sich um eine weitere Verkörperung des Heilenden Buddhas handelte, da dem besagten Edelstein nach traditioneller Ansicht starke Heilkräfte zugeschrieben wurden. Tsepame hieß der nächste Abgebildete, der Buddha des Unsterblichen Lebens. Dann folgte eine astrologische Karte, mit deren Hilfe sich Krankheiten feststellen und behandeln ließen; auf demselben thangka sah man die Darstellung eines menschlichen Rückens mit mehreren markierten Wirbeln und ein medizinisches Baumdiagramm, um die Wechselbeziehungen gewisser Leiden zu verdeutlichen. Auf dem letzten Gemälde war ein schlichter MandalaKreis mit Flammenkopf, seitlichen Klauen und einem geringelten Perlenschwanz zu sehen. Shan kannte derartige Figuren; die Lamas im Gefängnis hatten sie gezeichnet, weil für die Kranken keine andere Medizin zur Verfügung stand. Es war ein Skorpionzauber, ein Mittel zur Vertreibung der Dämonen, die eine Krankheit verursachten. Vielleicht auch eine Schautafel zur Anfertigung solcher Bannformeln, dachte Shan, denn er sah, daß die Stelle, an der eigentlich der Name des Erkrankten eingetragen werden mußte, leer geblieben war.
Während Lokesh die Bilder betrachtete, widmete Winslow sich dem Rest der Kammer. An einer der Wände hing ein weiteres thangka - ein sehr viel größeres Exemplar, das von der Decke bis zum Boden reichte -, auf dem abermals der König des Lapislazuli abgebildet war. Daneben lagen auf einem schmalen Vorsprung mehr als ein Dutzend kleine dorjes , die zepterförmigen Ritualgegenstände, die für die unzerstörbare Wahrheit der Buddhaschaft standen. Trotz der dicken Staubschicht
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