Das tibetische Orakel
konnte man erkennen, daß sie alle unterschiedlich gearbeitet waren. Einige bestanden aus Holz, andere aus Metall, eine offenbar aus Lapislazuli, und eine schimmerte golden.
Shan registrierte hinter sich eine Bewegung und drehte sich zu Chemi und Anya um. Das Mädchen stand neben der Frau und stützte sie, als habe Chemi einen plötzlichen Schwächeanfall erlitten.
Auch Lokesh und der Amerikaner wurden darauf aufmerksam. Sie hielten inne, und Winslow senkte den Lichtkegel der Lampe zu Boden. Der kleine weiße Fleck sah wie ein Lagerfeuer aus. Dann verharrten sie schweigend, als würde keiner von ihnen ein Wort über die Lippen bekommen, bis schließlich die Stimme einer Frau erklang und den Bann brach.
»Es war nicht Tag, als er kam«, flüsterte sie, »doch Nacht war es auch nicht.«
Shan blickte überrascht auf und suchte den Raum ab. Dann wurde ihm klar, daß die Worte von Chemi stammten. Sie starrte mit großen Augen auf die thangkas und sprach zu dem Heilenden Buddha. »Es war in dem Zeitraum dazwischen, wenn die Sonne schon untergegangen, die Nacht aber noch nicht hereingebrochen ist. Ich wollte so sehr an sein Kommen glauben. Ich war so krank, daß ich nur noch diesen Glauben hatte. Aber es schien völlig unmöglich zu sein.«
Ihre Stimme zitterte. »Ich hatte einen Onkel. Bevor er nach Indien ging, habe ich ihm versprochen, auf die alten Bräuche zu vertrauen und nicht in eine chinesische Klinik zu gehen, falls ich jemals krank würde. Manche Tibeterinnen legen sich in einem solchen Hospital zum Schlafen hin und wachen sterilisiert wieder auf.«
Sie sah Shan an und senkte den Blick dann zu Boden. »Ein Teil von mir hat nie erwartet, daß er kommen würde. Dann war er einfach da. Ich hatte meine Augen geschlossen, weil mein Bauch so weh tat. Als ich aufschaute, sah ich plötzlich sein Lächeln vor mir. Er wirkte so zerbrechlich und alt, daß ich fürchtete, der Wind könnte ihn fortwehen. Ich war dermaßen müde, daß ich schon glaubte, ich würde träumen. Das hier kann doch nicht der große Heiler sein, dachte ich, denn er sieht selbst so gebrechlich aus. Aber als er mir die Hand auf den Kopf legte, spürte ich seine Kraft. Der Wind war auf einmal nicht mehr kalt, und ich lächelte bloß, und er lauschte meinem Pulsschlag. Als er mir Fragen stellte, antwortete ich darauf, aber nicht mit meiner Stimme, sondern mit der Stimme eines kleinen Mädchens.«
Chemi ging einen Schritt auf die thangkas zu und neigte den Kopf, als versuche sie, die Bilder besser zu erkennen.
»Was für Fragen?« erkundigte Shan sich sanft.
»Nichts über meine Krankheit. Wenigstens anfangs nicht. Ob ich je als Pilgerin zum Berg Kailas gereist bin. Er wollte wissen, ob ich als Kind einen Drachen steigen gelassen habe und ob ich weiß, wie man aus einem Stock eine Flöte schnitzt. Wie es meiner Familie während der großen Auseinandersetzungen mit den Chinesen ergangen ist. Ob ich Buddha noch in mir spüren kann. Er hat mir ein paar kleine braune Pillen gegeben und mich aus seiner Flasche drup-chu -Wasser trinken lassen. Dann hat er Weihrauch entzündet, der aus dem Stamm der Aloe gewonnen wurde, und wir haben uns lange unterhalten.«
Sie hob die Hand, als wolle sie das uralte thangka des blauen Heilenden Buddhas berühren, hielt dann aber inne, so daß die Geste wie ein Gruß aussah. »Er hat mich nach Orten gefragt, nach Rapjung und der Ebene, sogar nach Yapchi.«
Sie wandte sich langsam zu Shan und Lokesh um, als rechne sie mit einer Frage. »Wir haben darüber geredet, daß man des Nachts derzeit die Frühlingsblumen riechen kann, und er wollte wissen, wieso ich einen dunklen Fleck in meiner Seele trage.«
Chemis Stimme wurde sogar noch leiser. »Da habe ich ihm von der alten Frau aus unserem Dorf erzählt, die mich immer anschrie, weil ihr meine Hunde zu laut waren. Und wie ich dann, als damals die Soldaten kamen, zu den Männern lief und ihnen verriet, daß die Frau ein Foto des Dalai Lama besaß und für seine Rückkehr betete. Sie haben sie weggebracht, und niemand hat sie je wieder zu Gesicht bekommen. Ich berichtete ihm, daß ich nachts nicht schlafen konnte, weil ich immerzu vor mir sah, wie die Soldaten sie fortzerrten.«
Sie blickte allen nacheinander ins Gesicht. »Er sagte, die Soldaten hätten das Foto sowieso gefunden, und ich solle mir keine Vorwürfe mehr machen. Er sagte, es sei an der Zeit, das Schuldgefühl abzulegen, und daß eine Frau, die den Dalai Lama liebte, keinen Groll gegen mich hegen würde.
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