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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Dann hat er mir eine Hand auf den Bauch gelegt.
    Meine Haut brannte, und mein Magen zog sich zusammen, und ich glaube, er hat etwas Schwarzes aus meinem Unterleib geholt. Etwas in mir veränderte sich. Ich schlief ein, und als ich erwachte, ging gerade die Sonne auf, und da war niemand außer einem kleinen Pfeifhasen, der mich die ganze Zeit ansah. Ich fühlte mich anders; irgendwie leicht und wieder bei Kräften. Aber nichts deutete darauf hin, daß jemand gekommen war, und zuerst glaubte ich, es müsse wohl ein Traum gewesen sein. Doch ich konnte mich an jedes einzelne Wort des Lama erinnern, und meine Schwäche war weg. Ich stand auf, und dann sprang ich in die Luft. Dieser Hase hätte weglaufen müssen, aber er rührte sich nicht von der Stelle, bis ich aufbrach. Da hüpfte er auf einen Felsen und fing an zu plappern, als wolle er der Welt verkünden, daß ich noch lebte. Und daß er womöglich zum Zeugen eines Wunders geworden war.«
    Chemi starrte auf die ausgestreckte Hand des blauen Buddhas und hielt ihre Fingerspitzen dicht davor, nur ein winziges Stück von der Oberfläche der alten Stoffbahn entfernt.
    »Aber ich frage mich immer noch, ob es nicht doch ein Traum gewesen ist. Denn ich glaube, daß die Lama-Heiler aus einer der anderen Welten gestammt haben.«
    Andere Welten. Chemi meinte eines der bayais , der verborgenen Länder, die man, so hieß es, durch versteckte Pforten in der Erde erreichen konnte. »Sie können hier nicht existieren, habe ich bei mir gedacht. Sie sind wie manche der Geisterwesen aus alten Zeiten , die von Dämonen gejagt und getötet wurden. Man mußte mich also in ein hayal gebracht haben. Aber seht.«
    Sie wies mit ausholender Geste auf die thangkas. Sie hatten einen Ort der Lama-Heiler gefunden. In dieser Welt.
    Alle Anwesenden, auch der Amerikaner, gingen voll stiller Ehrfurcht in der Kammer umher. Lokesh kehrte immer wieder zu den dorjes zurück, die nebeneinander auf dem schmalen Sims lagen. Fast alle waren symmetrisch geformt und liefen an beiden Enden in einem Zepter aus; zwei hingegen bestanden aus einem Zeptergriff und einem purba , dem Zeremoniendolch, nach dem die Widerstandsbewegung sich benannt hatte.
    »Es ist so lange her«, sagte Lokesh und berührte eine ungewöhnlich lange dorje , die aus Sandelholz gefertigt war. »Aber diese hier kommt mir irgendwie bekannt vor.«
    Er strich mit den Fingern über die abgenutzte Oberfläche, schien jedoch davor zurückzuscheuen, die dorje in die Hand zu nehmen. »Mein Lehrer, Chigu Rinpoche, besaß ein ganz ähnliches Exemplar.«
    Lokesh klang verwirrt. »Ein anderes dieser Art habe ich noch nie zu Gesicht bekommen.«
    »Manchmal wurden die Schätze versteckt, wenn man von der bevorstehenden Ankunft der Zerstörer erfuhr«, erklärte Chemi.
    Shan sah sie an. Zerstörer. Manche Dörfer oder Clans hatten für die Ereignisse der letzten fünfzig Jahre ein eigenes Vokabular entwickelt.
    »Man hat Verstecke angelegt«, pflichtete Shan ihr bei, wandte den Blick aber nicht von Lokesh ab.
    Vor einer der Wände lag ein länglicher flacher Haufen Staub. Tenzin bückte sich, betastete ihn und zog ein Stück Stoff mit bunt leuchtenden Fäden daraus hervor. Darüber hing ein knorriger Ast von der Decke, an dem zwei ausgefranste Reste Yakhaarschnur befestigt waren. Einst hatte ein thangka daran gehangen und war irgendwann abgefallen. Tenzin sah Shan an und ließ den Stoff respektvoll wieder sinken. Das hier war kein hastig angelegtes Schatzversteck aus der Zeit der Zerstörung Rapjungs durch die Armee, sondern ein uralter Zufluchtsort, der ursprünglich vielleicht einem längst vergessenen Geheimritual gedient hatte.
    Schließlich erinnerte Chemi die anderen an ihr eigentliches Ziel, und sie folgten ihr schweigend nach draußen. Shan verharrte noch kurz bei dem Felssockel und schaute zurück zu dem Schatten, in dem sich der Höhleneingang verbarg. »Wie konnten sie überleben? Wie kann es hier überhaupt noch Lamas geben?« fragte er sich laut. »Die Armee hat die Berge doch bestimmt abgesucht.«
    »Abgesucht?« wiederholte Chemi verbittert. »Sie haben sie sterilisiert. Ein Zeitlang gab es sogar Patrouillen, deren Gewehre mit Zielfernrohren ausgestattet waren. Die haben alles getötet, was sich bewegte. Man stellte Schilder auf, die uns verboten, während der nächsten drei Monate das Gebirge zu betreten. Jede Ziege, jeder wilde Yak wurde erschossen, weil ein sterbender Mönch gesagt hatte, alle von den Chinesen ermordeten Tibeter würden so

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