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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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ungewohnten Gegend. Einer seiner Mithäftlinge hatte erzählt, in Qinghai gehe es ein wenig toleranter zu und die traditionellen tibetischen Institutionen der früheren Provinz Amdo seien nicht ganz so umfassend ausgelöscht worden, weil es hier keine richtigen Siedlungen und somit für die Armee keine offensichtlichen Ziele gegeben habe.
    Sie gelangten an ein weites offenes Geröllfeld, auf dem Heidekraut wuchs. Lokesh wies auf einen kleinen Schwarm Vögel, die wie Birkhühner aussahen und noch die weißen Reste ihres Wintergefieders trugen. Die Tiere suchten in etwa sechzig Metern Entfernung am Boden nach Futter. »Lha gyal lo!« rief Lokesh leise aus.
    Dann explodierten die Vögel.
    Steine, Pflanzen und Tiere wurden mit einem ohrenbetäubenden Knall hoch emporgeschleudert. Chemi schrie und warf sich zu Boden. Tenzin packte Anya und zog sie hinter einen Felsblock, während Shan seinen alten Freund Lokesh in die gleiche Richtung schob. Winslow rührte sich nicht vom Fleck und fluchte laut auf englisch, während die Trümmer wieder hinabstürzten. Als der Amerikaner einen Schritt vortrat und sein Fernglas nahm, detonierte ein Stück hinter dem ersten Krater die nächste Stelle und schickte einen Steinhagel gen Himmel. Winslow zog sich zu Shan hinter die Felsen zurück und fluchte immer noch, als die dritte Explosion die Luft zerriß.
    Dann herrschte schlagartig Stille. Erdbrocken prasselten auf sie herab, und aus den drei Kratern im Boden stiegen kleine Rauchsäulen auf. Drei Explosionen in einer Reihe und gleichmäßigem Abstand. Genau wie die Detonationen, die sie am Morgen vom Berg aus beobachtet hatten.
    Chemi rappelte sich mit entsetztem Blick auf. Tenzin ging zu ihr und schaute nach oben auf etwas Weißes, das langsam herabsegelte. Es war eine Feder, und sie alle beobachteten sie schweigend, bis sie ein Stück vor ihnen den Boden berührte. Lokesh stimmte ein leises klagendes Mantra an.
    »Was hat die Armee.«, setzte Chemi an und rieb sich die Ohren.
    Shan bemerkte, daß auch ihm die Ohren klangen. »Das war nicht die Armee«, hörte er Winslow wie aus großer Entfernung sagen. Der Amerikaner deutete auf das andere Ende des Geröllfelds. Dort kamen hinter einem Felsvorsprung mehrere behelmte Personen in Sicht, aber sie trugen keine Stahlhelme des Militärs, sondern rote und silberne Schutzhelme, wie sie mitunter bei Bauarbeitern üblich waren. Shan bedeutete den anderen, sie sollten sich wieder zwischen die Felsen zurückziehen. Dann trat er zögernd einige Schritte vor und wartete.
    Die Wut des vordersten der Männer war nicht zu übersehen. Wenngleich er sich noch außer Hörweite befand, konnten sie bereits erkennen, daß er brüllte, auf sie und die kleinen Krater zeigte, sich kurz umdrehte und seine Faust in Richtung der kleinen Gruppe schüttelte, die ihm folgte. Als er den nächstgelegenen Explosionstrichter erreichte, blieb der Mann stehen und musterte Shan. Dann nahm er seinen silbernen Helm ab und kam mit zorniger Miene näher. Einen Moment lang glaubte Shan, der Mann würde mit dem Helm nach ihm werfen.
    »Sie hätten den Test ruinieren können!« rief der Fremde.
    Als er vor Shan stand, setzte er den Helm wieder auf, als wolle er seine Kampfbereitschaft zum Ausdruck bringen. Er war ein Han-Chinese, breitschultrig und etwas größer als Shan. Auf der linken Brusttasche seiner grünen Nylonjacke war ein goldener Bohrturm abgebildet.
    »Wir hätten getötet werden können«, stellte Shan ruhig fest.
    »Sie hätten unseren Test ruinieren und getötet werden können«, gab der Mann laut und mit immer noch funkelndem Blick zurück.
    »Sie haben einige Vögel getötet.«
    Ein paar Schritte hinter Shan kam Anya zum Vorschein.
    Die Worte oder vielleicht einfach nur der sanfte, enttäuschte Tonfall, in dem Anya sie aussprach, schienen dem Mann den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er runzelte die Stirn. »Hier im Testquadranten und so dicht neben den Ladungen können bereits simple Schrittgeräusche das Ergebnis verzerren«, knurrte er.
    »Woher sollten wir das wissen?« fragte Shan.
    »Wissen? Das ganze Gebiet wurde zur Sperrzone erklärt. Können Sie denn nicht lesen? In jedem Dorf der Gegend gibt es Aushänge, auf denen man die Zeitpunkte der Tests in den jeweiligen Quadranten vermerkt hat. Nur ein Narr würde.«
    Unterdessen näherte sich ein weiterer Mann, dessen Augen hinter einer dunklen Brille verborgen lagen. Mit den runden Wangen und dem gedrungenen Körperbau sah er wie ein Mongole aus. Um seinen

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