Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
Vom Netzwerk:
ich kenne Sie nicht«, sagte er argwöhnisch. »Sie gehören nicht zur Belegschaft, da bin ich mir sicher.«
    Winslow seufzte, zog seine Brieftasche hervor und reichte Zhu eine Visitenkarte.
    Sie war auf einer Seite chinesisch, auf der anderen englisch bedruckt. Shan sah goldene Sterne und das Bild eines amerikanischen Adlers in blauer Farbe. Zhu starrte die Karte lange an und gab sie schließlich dem Geologen, der sie mehrfach umdrehte und dabei jedesmal zu lesen schien, als könnte die Aufschrift sich dadurch verändern. »Ich habe gehört, daß jemand von Ihrer Regierung da war«, merkte Zhu trocken an.
    »Wollen Sie andeuten, Miss Larkin habe einen Unfall erlitten?« fragte Winslow.
    »Miss Larkin ist tot«, sagte Zhu schroff. »Sie ist vom Berg in einen Fluß gestürzt. Ich habe es selbst gesehen.«
    Shan hörte, daß Winslow vernehmlich einatmete. »Sie waren dabei?«
    »Ich habe es gesehen, aber nicht aus der Nähe. Wie Sie wissen, ist Miss Larkin im Gelände geblieben, ohne angemessene Vorbereitungen zu treffen. Es war als eine Dreitagesmission geplant, aber sie ist nicht zurückgekehrt. Wir haben nach ihr gesucht, sogar per Hubschrauber. Ihre Vorgesetzten waren sehr verärgert. Ihr Team hatte teure Ausrüstung dabei und sollte wichtige Daten sammeln. Nur zwei der Leute sind zurückgekommen, nur die Chinesen, und die sagten, sie hätten sich verirrt. Die anderen bei Miss Larkin waren Tibeter.«
    Er klang vorwurfsvoll. »Ich dachte, sie hätte sich vielleicht ebenfalls verirrt, denn hier oben kann man sehr leicht die Orientierung verlieren. Also sind wir ins Gebirge gezogen, um nach ihr Ausschau zu halten. Auf einem Sims hoch über uns haben wir sie dann durch unsere Ferngläser entdeckt. Ich glaube, sie hat vor lauter Hunger Wahnvorstellungen bekommen. Oder es lag an der Höhe. Ausländer haben oft Probleme mit der Höhe.«
    »Warum habe ich bei meinem Besuch im Lager nichts davon erfahren?«
    »Ich war in den Bergen unterwegs. Bei meiner Rückkehr habe ich sofort Bericht erstattet. Entsprechende Formulare wurden bereits nach Peking geschickt. Und an Miss Larkins Arbeitgeber.«
    Winslow blieb zunächst stumm. Er setzte sich auf einen flachen Felsen und ließ den Blick über die karge Landschaft schweifen. »Ist ihre Leiche im Lager?« fragte er nach einer Weile. »Ich muß sie mitnehmen.«
    »Es gibt keine Leiche«, stellte Zhu lakonisch fest. »Sie ist in den Fluß gestürzt und wurde fortgespült. Das kommt vor. Manchmal werden Tote erst nach vielen hundert Kilometern aus dem Wasser gezogen.«
    »Meinen Sie den Jangtse?«
    »Nein. Wir waren auf dem Kamm der langen Bergkette an der Provinzgrenze. Sie ist auf der Südseite abgestürzt. Der tibetischen Seite.«
    »Ich brauche unbedingt eine Leiche«, sagte Winslow leise. »Das ist mein Job. Die amerikanische Regierung muß über jeden einzelnen ihrer Steuerzahler Rechenschaft ablegen können.«
    Er seufzte und faltete seine Landkarte auseinander. »Zeigen Sie mir die Stelle.«
    Zhu zog einen Bleistift aus der Tasche, studierte die Karte ziemlich lange und wies dann auf eine knapp fünfundzwanzig Kilometer westlich gelegene, zerklüftete Region, wo laut der topographischen Darstellung eine steile Wand emporragte. Darunter verlief eine schmale blaue Linie nach Süden und somit nach Tibet hinein. Zhu folgte ihr mit der Bleistiftspitze zu einem größeren blauen Fleck in mehr als hundertfünfzig Kilometern Entfernung. »Das ist ein See«, lautete seine zufriedene Schlußfolgerung, als würde dadurch irgend etwas bewiesen. »Vermutlich einer dieser heiligen Orte.«
    Winslow musterte ihn langsam vom Scheitel bis zur Sohle. »Und ich werde diese Unterlagen benötigen, die Sie eingereicht haben«, sagte er kühl.
    »Gehen Sie nach Yapchi, und fragen Sie nach dem Manager.«
    »Jenkins. Den kenne ich schon.«
    »Genau«, bestätigte Zhu mit seiner ruhigen, aalglatten Stimme. »Mr. Jenkins war auch zutiefst erschüttert. Wir alle haben Miss Larkin gemocht. Sie war sehr hübsch. Und sie hat Witze erzählt. Sie sprach Tibetisch. Kein Chinesisch«, hielt er betont fest, »aber Tibetisch.«
    Der andere Mann wandte sich ab, als wären Zhus Worte das Signal zum Aufbruch gewesen.
    »Bleiben Sie auf den Hauptpfaden«, riet Zhu und wich einen Schritt zurück. »Das ist für alle am besten.«
    Er suchte den steilen Hang hinter ihnen ab, als versuche er festzustellen, woher sie wohl gekommen sein mochten. »Andernfalls können wir nicht für Ihre Sicherheit garantieren.«
    Bei

Weitere Kostenlose Bücher