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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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diesen Worten ging der Direktor an Shan vorbei zu den Felsen und schritt aufmerksam den Rand des Feldes ab, als rechne er mit weiteren versteckten Personen. Dann kehrte er um und gesellte sich wieder zu dem Geologen. »Sie haben keine Hunde dabei«, sagte Zhu mit mißtrauischem Blick auf Shan. »Hirten haben Hunde.«
    Shan hielt dem Blick ruhig stand. »Wenn Schafe sich selbständig machen, müssen die Hunde sich entscheiden, ob sie bei den Tieren bleiben oder zum Hirten laufen sollen. Diesmal müssen sie wohl bei den Schafen geblieben sein.«
    Zhu lächelte schmallippig. »Ein Han-Hirte mit tibetischen Schafen. Schwierig«, sagte er. Dann drehte er sich um und machte sich mit seinem Begleiter auf den Rückweg zur anderen Seite der langgestreckten Geröllebene, die nun teilweise einem Schlachtfeld ähnelte. Shan mußte an den Krater denken, den er in Rapjung gesehen hatte. Das Land brauchte lange, um von solchen Wunden zu genesen.
    Er beobachtete den Direktor, bis dieser außer Sicht verschwand, und wollte sich einreden, daß Zhu tatsächlich nur war, was er zu sein vorgab. Doch Shan hatte zu viele Männer wie Zhu gekannt, um sich so leicht zufriedenzugeben: erst als Kollegen in Peking und später als Aufseher im Gulag. Zhu war nicht bloß leitender Mitarbeiter einer Ölfirma, sondern mit Sicherheit auch Mitglied der Partei. Zudem höchstwahrscheinlich der Politkommis- sar des Projekts und womöglich sogar ein Sonderbeobachter der öffentlichen Sicherheit.
    Shan überdachte Zhus Angaben und versuchte sie mit den eigenen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Auf der anderen Seite des Berges war angeblich keines der Ölteams unterwegs, doch die Explosionen am Morgen hatten zweifellos seismischen Messungen gedient. Der Helikopter, den Chemi gesehen hatte, war eine zivile Maschine gewesen, und der einzige Zivilhubschrauber in dieser Region gehörte vermutlich zu dem Ölprojekt. Zhu hatte gesagt, ein Helikopter habe nach Larkin gesucht. Aber wieso sollte er das auf der anderen Bergseite tun? Außerdem hatte Zhu die Amerikanerin bereits als tot gemeldet. Wonach hielt die Maschine also Ausschau?
    Winslow starrte immer noch auf die Landkarte. »Mein Gott«, flüsterte er, als Shan zu ihm kam. »über eine Klippe.«
    Shan vermutete, daß der Amerikaner daran denken mußte, wie knapp er am Vortag einem ähnlichen Schicksal entronnen war.
    »Ich komme immer mit einer Leiche zurück«, sagte Winslow geistesabwesend.
    »Vielleicht können wir später an diesen Fluß reisen und ein paar Abschiedsworte sagen«, schlug Shan vor.
    »Ich habe Melissa nicht gekannt«, erwiderte Winslow. Es klang wie ein Protest.
    »Eine eigensinnige Amerikanerin, die ihre täglichen Pflichten und ihr normales Leben hinter sich läßt, um in den Bergen Tibets umherzuwandern, eventuell auf der Suche nach etwas Größerem.«
    Winslow lachte leise auf, doch sein Lächeln verwandelte sich unversehens in ein Stirnrunzeln. »Bei ihnen klingt das, als hätten die Frau und ich nach den gleichen Antworten gesucht.«
    Shan sah ihn nur wortlos an. Winslow blickte kurz auf, verzog das Gesicht und wandte sich ab.
    Als sie tiefer in die Provinz Qinghai hinabstiegen, wurde die Landschaft grüner. Die Hügel glichen immer noch den rauhen Geröllhängen, die sie auf der Südseite der Bergkette gesehen hatten, aber die Täler, in denen das Schmelzwasser ablief, waren dichter bewachsen. Auf manchen Höhen standen Wacholderbäume und Pappeln. Zwischen den Felsen schienen sogar deutlich mehr Hasen herumzulaufen.
    Lokesh interessierte sich für jeden Bach, auf den sie stießen. Nach Möglichkeit ging der alte Tibeter zum Ufer und kostete das Wasser. Wenn der Bach zu weit weg lag, nahm Lokesh ihn aus der Ferne wenigstens genau in Augenschein. Er erklärte dieses Verhalten nicht, aber Shan war überzeugt, daß Lokesh an den blutroten Fleck dachte, den sie tags zuvor gesehen hatten. Shan konnte sich das Phänomen nach wie vor nicht erklären, aber er wußte, daß nach der Auffassung der Heiler, bei denen Lokesh in die Lehre gegangen war, eine untrennbare Verbindung zwischen der Gesundheit des Landes und der Gesundheit der Bevölkerung bestand. Für Lokesh und seine Lehrer war es undenkbar, die Erkrankung eines Menschen zu behandeln, ohne zugleich auf den Zustand seiner Seele einzugehen, und die Ausgeglichenheit einer menschlichen Seele hing direkt von der Harmonie in jenem Teil der Welt ab, in dem die betreffende Person lebte. Nach dieser Anschauung konnte der blutrote Fleck

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