Das tibetische Orakel
schmalen Felsgrat führte, von dem aus man weit nach Norden und Westen blicken konnte. Der Bergsattel, auf dem sie standen, trennte die wogenden grauen Hügel im Osten von einem kleinen fruchtbaren Tal, das auf drei Seiten durch einen hohen gebogenen Ausläufer des Bergs Yapchi begrenzt wurde. Die Wände verliehen den ansteigenden Flanken den Anschein einer gewissen Symmetrie, so daß das an üppiger Frühlingsvegetation reiche Tal wie ein grünes ovales Becken aussah. Eine weite Grasfläche erstreckte sich vor ihnen. Die anderen Seiten des Tals wurden von einem etwa vierhundert Meter breiten Streifen aus Koniferen gesäumt. Jenseits der Bäume ragten Klippen und Felstürme auf. Unterhalb lagen Weidegründe und Felder, mehrheitlich in Form primitiver Terrassen, deren unterschiedlich helle Grüntöne auf sprießende Gerste und Schafweiden hindeuteten.
Anya wies aufgeregt auf eine kleine Ansammlung von Gebäuden am südlichen Ausgang des Beckens und hielt sich wie zum stummen Gebet die mala ans Kinn. Ihr Dorf stand noch. Dann warf sie Chemi einen entschuldigenden Blick zu und griff nach ihrer Hand. Die Frau schien unter Schock zu stehen. Shan bezweifelte, daß sie das Tal vor ihren Augen überhaupt wahrnahm. »Du bleibst bei uns. Yapchi wird dir gefallen«, sagte das Mädchen. »Nicht mehr lange und es gibt Lamtso-Salz für unseren Tee«, fügte sie hinzu und führte Chemi zurück zum Pfad.
Winslow blieb stehen und suchte die andere Talseite mit dem Fernglas ab. Shan griff ebenfalls nach dem Feldstecher. Als er die Schärfe nachjustierte, kam am gegenüberliegenden Ende des Tals in etwa drei Kilometern Entfernung eine weitere Ansiedlung in Sicht, von der aus eine unbefestigte Straße vorbei an dem hohen Bergsattel aus dem Becken führte. Shan erkannte mehrere schwere Lastwagen und zwei Reihen kastenförmiger Gebäude.
»Die Büros und Unterkünfte werden per Sattelschlepper angeliefert. Es sind lange Wohnanhänger«, erklärte Winslow. Shan nickte und sah sich weiter im Tal um. Er hatte in Xinjiang, der gewaltigen Provinz im Nordwesten, schon ähnliche Ölkonvois gesehen. Einer davon war fast zwei Kilometer lang gewesen und hatte aus Lastwagen aller Größen, Bussen, Kränen und Laborfahrzeugen bestanden; eine kleine Stadt auf Rädern.
Auf dem Hang oberhalb des Öllagers holzten Arbeitstrupps den Wald ab. Ein Bereich von vierhundert Metern Breite war bereits vollständig freigeräumt und die Stämme hinunter ins Lager gerollt worden. Die Schneise mit den Stümpfen wirkte wie eine Wunde in der Flanke des Berges.
Winslow streckte abermals die Hand aus, und Shan richtete das Fernglas auf einen Punkt nahe der Mitte des Tals, wo ein großer Bohrturm und zwei Lastwagen standen. »Hier herrschen günstige Bedingungen«, sagte Winslow. »Das hat der Manager mir erzählt. Es ist sehr trocken, und das gefällt ihnen. Wasser macht alles nur komplizierter und teurer. Yapchi ist sogar so trocken, daß man das Wasser mit großen Tankwagen herbringen muß. Ein trockener Talgrund bedeutet, daß man praktisch genau im Zentrum, also am tiefstgelegenen Punkt arbeiten kann und nicht so lange zu bohren braucht, um ans Ziel zu gelangen.«
Ans Ziel. Shan erinnerte sich an Lhandros Worte. Die Firma würde der Erde von Yapchi das Blut abzapfen.
Winslow wollte sich umdrehen und den anderen folgen, aber dann sah er, daß Shan noch immer die Hänge absuchte. »Es war ein ziemlich kleines Stück Stein«, stellte der Amerikaner fest.
Shan ließ das Glas mit mattem Lächeln sinken. »Ich erwarte nicht, von hier aus das gestohlene Auge zu entdecken«, sagte er ruhig. »Ich versuche lediglich zu begreifen, wie man eine blinde Gottheit aufspürt.«
Winslow sah ihn an, als frage er sich, ob Shan einen Scherz gemacht hatte. Dann schaute er mit unverkennbarer Abneigung zu dem Bohrturm. »Da, wo ich herkomme, hat man uns gelehrt, daß dein Gott aus dem Himmel steigt und dich sucht, falls du etwas wirklich Schlimmes tust.«
»Sie meinen, ich sollte eher nach einem zornigen Gott Ausschau halten?« fragte Shan.
Doch der Amerikaner wandte sich einfach ab und ging los.
Während sie dem gewundenen Pfad durch mehrere enge Hohlwege und über einige Wildwechsel nach unten folgten, blieb das Abbild des Tals vor Shans innerem Auge haften. Er verstand nun besser, weshalb die Dörfler ihre Heimat so sehr liebten. Es war ein solch winziges Stück Erde, dermaßen abgeschieden, daß es hier keine Elektrizität und noch nicht mal eine richtige Straße gab. Ein
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