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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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also auf einen Riß in dem Gefüge hindeuten, das sie alle miteinander verband.
    Sie folgten dem Verlauf eines langen steilen Tals. Nach einer halben Stunde hielt Winslow mit der Karte in der Hand inne und rief Chemi zu sich. Sie zeigte ihm das Ziel der Reise und wies auf die schmale Schlucht, die sie als nächstes betreten würden. Das andere Ende öffne sich auf die tieferen Berghänge, und dort läge auch ihr Heimatdorf, sagte Chemi und lächelte voller Vorfreude. Winslow bückte sich, damit Anya auf seinen Rücken steigen konnte. Chemi ging immer schneller, und obwohl sie für gewöhnlich mindestens fünfzehn Meter vor der kleinen Marschkolonne lief, hörte Shan sie leise singen.
    Die Schlucht endete abrupt, und Chemi blieb auf einem von der Sonne beschienenen Fleck stehen. Das schrille, abgehackte Geräusch, das sie ausstieß, schien ein Gruß werden zu sollen. Dann jedoch sank sie auf die Knie und hielt sich den Leib, und der Laut wurde zu einem langgezogenen schmerzerfüllten Stöhnen. Shan lief an ihre Seite, aber sie bekam kein Wort über die Lippen.
    Er sah nun, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Ein Stück neben der Mündung des Tals entsprang ein kleiner Bach, und etwa fünfzig Meter von dessen Ufer entfernt hatte jenseits einiger Bäume ein winziges Dorf gestanden. Statt der Bäume gab es nur noch rauchende Stümpfe. Dahinter lagen die schwelenden Überreste von vier oder fünf Häusern.

Kapitel 11
    Der Lärm schwerer Motoren und ein metallisches Klirren rissen sie aus ihrer Erstarrung. Ohne zu zögern oder sich umzuwenden, rannte Chemi in den Schutz eines seitlich gelegenen Felsvorsprungs. Shan packte Lokesh und zerrte ihn ebenfalls dort in Deckung, während Winslow sich Anya schnappte und ihnen folgte. Erst nach fast hundert Metern blieb Chemi stehen. Sie konnte immer noch nicht sprechen, weil ihre Gefühle ihr weiterhin die Kehle zuschnürten. Schließlich bückte sie sich und begann zu würgen. Als sie dann aufblickte, sah Shan wieder die Kranke vor sich, jenes zerbrechliche Geschöpf, das er am Wegesrand getroffen hatte.
    Entgegen Shans erster Befürchtung waren es keine Panzer, sondern zwei Bulldozer, die hinter dem hohen Felswall zum Vorschein kamen, der das Dorf im Süden und Osten umgab. Eine der Maschinen wurde langsamer. Die andere senkte die Schaufel und fing an, eine Furche durch die Ruinen zu ziehen, wobei sie einen immer höheren Schuttberg vor sich herschob. Ein Stuhl flog in die Luft, die Überreste eines Fensters und ein Bett, dann etwas Aufgeblähtes und Weißes, das wie der Kadaver eines Hundes aussah.
    Der zweite Bulldozer zog einen doppelachsigen Anhänger, aus dem mindestens ein Dutzend Männer ausstiegen. Sie koppelten den Wagen sogleich ab und machten sich daran, Baumaterial auszuladen. Der Bulldozer fuhr weiter.
    »Das Ölprojekt«, stieß Anya mit gequälter Stimme hervor. »Nur die haben solche Ausrüstung.«
    Ihre Worte schienen alles zu besagen, zumindest wußte niemand etwas hinzuzufügen. Anya nahm Chemi bei der Hand und führte sie und die anderen zwischen den Felsen hindurch.
    Das Dorf Yapchi, hatte Chemi erzählt, lag nur eine Wegstunde von hier entfernt.
    Bevor Shan nach Tibet gekommen war, hatte er sich nie Gedanken über die Feinheiten eines Fußmarsches und die verschiedenen Arten des Gehens gemacht. Zwar war das Rad in Tibet schon seit vielen Jahrhunderten und somit genauso lange wie in China oder Indien bekannt, doch während der meisten Zeit nicht als Transportmittel, sondern lediglich in Form der Gebetsmühlen genutzt worden. Tibeter gingen eben gern zu Fuß, sagte Lokesh immer, denn so blieben sie in Kontakt mit der Erde und hatten genug Zeit zum Nachdenken. Allerdings konnte man in Tibet auf vielerlei Weise zu Fuß gehen. Zum Beispiel gab es die Pilger, die sich langsam und ehrfürchtig einem heiligen Ort näherten. Dann die Reisenden in einer Karawane, die zügig und gleichmäßig ausschritten und dabei den Horizont oder ihre Tiere im Auge hatten. Und es gab Häftlinge, die mit gesenkten Köpfen voranschlurften. Chemi bewegte sich nun auf eine wiederum andere Weise, in ungleichmäßigem, stotterndem Tempo, wobei sie immer wieder stehenblieb, um einen nervösen Blick über die Schulter zu werfen oder einfach nur seufzend einen Moment auszuharren, bis sie ihre Gefühle wieder halbwegs in den Griff bekam. Es war die Gangart eines Flüchtlings, und es schmerzte Shan, daß Chemi so bereitwillig darin verfiel.
    Sie zogen schweigend weiter, bis Anya sie zu einem

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