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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Das ferne Rumpeln des Bohrturms, der sich scharrend und mahlend tief in die Erde grub? Der leichtsinnige Einfall, den Chinesen im Tal Widerstand leisten zu wollen?
    Shan lächelte traurig und sah Lepka nur an. Er hatte gelernt, diese alten Tibeter als einen der Schätze zu betrachten, über die das Land in seinen abgeschiedenen Regionen noch verfügte. Diese Männer und Frauen schienen der Zeit oder wenigstens dem Alter zu trotzen; sie waren zum Teil über hundert Jahre alt und konnten sich noch genau an die Epoche vor dem Überfall Pekings erinnern. Die Haut dieses Mannes war wie altes Pergament. Womöglich hatte er sogar schon gelebt, als das Auge aus Yapchi geraubt worden war. Shan sah, daß seine knorrigen Hände ein mudra gebildet hatten: Daumen und Mittelfinger lagen ausgestreckt aneinander, alle anderen Finger waren eingerollt, so daß sich nur die Knöchel berührten. Beschämt erkannte Shan die Geste. Es war ein Opferzeichen, genannt Wasser für die Füße. Man benutzte es bei der Weihe von Mönchen oder der Begrüßung heiliger Gäste.
    »Ich bin dorthin gegangen«, verkündete Lepka. »Ich habe mich auf meinen Stab gestützt und bin zu dieser chinesischen Maschine gegangen.«
    Er leckte sich abermals die Lippen, woraufhin die Frau ihm eine Schale Wasser reichte und er einen Schluck trank. »Dann habe ich mit einem Stein danach geworfen.«
    Bei diesen Worten lief ein schmales Rinnsal Wasser an seinem Kinn hinunter. »Manchmal gaukeln die Dämonen den Menschen böse Dinge vor, die gar nicht wirklich existieren. Aber der Stein hat etwas Metallenes getroffen und ist daran abgeprallt. Die Arbeiter haben gelacht und gesagt: >Seht euch nur diesen verrückten Alten an.<«
    Lepka sah Shan an und grinste. Er hatte kaum noch Zähne im Mund. »Aber im Steinewerfen bin ich gut. Als junger Mann habe ich mit Steinen und meiner Schleuder die Wölfe von den Herden ferngehalten. Also habe ich noch einen Stein geworfen und dann noch einen, immer an einer anderen Stelle. Sie haben nur um so lauter gelacht. Aber weißt du was?« fragte er, hustete und stieß ein langgezogenes pfeifendes Geräusch aus, bevor er fortfuhr. »Ich habe eine Glocke entdeckt. Die Stelle sah nicht wie eine Glocke aus, weil sie sich in einer anderen Gestalt verbarg. Aber sie klang wie eine Glocke. Es war die Essenz einer Glocke, die sich dort versteckte.«
    Nach traditioneller Ansicht ließen sich mit manchen Glocken Dämonen verscheuchen.
    »Und diese Kerle haben nicht das geringste davon mitbekommen«, rief Lepka und gab erneut dieses pfeifende Keuchen von sich. Shan begriff, daß es ein Lachen war.
    Er nickte ernst und trank etwas Tee. »Dein Heim ist so friedlich«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Wie ein Tempel.«
    Die Frau lächelte, und der alte Mann ließ den Blick langsam durch die Kammer schweifen, als sähe er sie zum erstenmal »Der Großvater meines Großvaters hat dieses Haus erbaut. Das war im ersten Jahr des Achten.«
    Er sprach vom achtzehnten Jahrhundert.
    »Es hat viele Gebete gehört«, fügte die Frau leise hinzu.
    »Wenn unser Sohn mit den Leuten im Dorf über wichtige Entscheidungen reden möchte, lädt er sie gern hierher ein, denn er sagt, in diesem Haus würde niemand je unverschämt werden, weil in dem Holz so viele Gebete leben.«
    Shan musterte noch einmal den Schlafplatz und sah, daß sich an der hinteren Wand eine zusammengerollte dritte Bettstatt befand. Auf einmal wurde ihm klar, in wessen Haus er sich befand. »Es ist ein langer Weg zum Lamtso.«
    Der alte Mann lächelte. »Als mein Junge drei Jahre alt war, habe ich ihn das erste Mal mitgenommen. Er saß unterwegs auf meinen Schultern, und wir haben gesungen. Stundenlang haben wir gesungen. Und da war ein Hund, ein riesiger Mastiff, der ihn auf seinem Rücken reiten ließ. Manchmal legte er sich hin und schlief auf dem breiten Hunderücken ein, und das Tier lief einfach weiter. Ich hielt das für viel zu gefährlich.«
    Die Heiserkeit war aus seiner Stimme verschwunden, als hätten die Erinnerungen etwas in seinem Innern zu neuerlichem Leben erweckt.
    »Aber all die anderen Hunde mußten arbeiten«, sagte eine sanfte Stimme hinter Shan. »Beim Aufbruch vom See wurden jedem der Hunde zwei Beutel umgeschnallt. Nur diesem einen nicht, damit ich auf ihm heimreiten konnte.«
    »Sohn!« rief die Frau und sprang auf, um Lhandro in die Arme zu schließen.
    Der Führer der Karawane blickte auf und lächelte erschöpft.
    »Lha gyal lo, lha gyal lo« , sagte Lepka

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