Das tibetische Orakel
Sicht der Dinge. Es gibt jene, die der neuen Ordnung folgen, und jene, die sich darum bemühen. Für alle anderen«, sagte er mit gespieltem Bedauern, »ist kein Platz mehr, und sie haben auch nichts zu erwarten.«
Winslow nahm die Kappe vom Objektiv seiner Kamera, und Lins Züge verhärteten sich. »Das Ölprojekt Qinghai«, sagte der Oberst mit lauter Stimme, als verkünde er dem gesamten Dorf eine Proklamation, »ist bereit, jeden großzügig zu entschädigen, der sich beim Aufbau des neuen Wirtschaftssystems und der Umgestaltung dieses Tals kooperativ verhält. Zu Feier des Ereignisses wird dem Tal sogar ein neuer Name verliehen. Wir haben beschlossen, es Tal von Lujun zu nennen. Ich werde den Befehl erteilen, alle Landkarten entsprechend zu ändern.«
Lhandros Kopf ruckte hoch, und sein Körper spannte sich an, als wolle er über den Oberst herfallen, doch Winslow legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. Lin benannte das Tal nach den chinesischen Soldaten, die vor hundert Jahren fast die gesamte einheimische Bevölkerung ausgelöscht hatten.
Der Oberst hielt inne, als warte er nur auf Lhandros Angriff, und schien eine weitere spöttische Bemerkung äußern zu wollen. Da unterbrach ihn ein Donnern, ein fernes, hohles wiederkehrendes Hämmern, das durch das ganze Tal hallte. Lin wandte sich um, als hielte er beim Bohrturm und dem Öllager nach einer Ursache des Geräusches Ausschau, aber es war kein Maschinenlärm. Es glich beinahe einem Herzschlag - langsam aber gleichmäßig. Shan spähte vorsichtig an der Hauswand entlang. Die Göttertrommel war verschwunden.
Lins schmale Lippen verzogen sich zu etwas, das wie ein Zähnefletschen aussah. Er winkte dem Soldaten, der die Salzbeutel durchsucht hatte, woraufhin dieser sogleich einen schrillen Pfiff ausstieß. Seine Kameraden im Dorf drehten sich zu ihm um. Er hob die linke Hand, umschloß mit der Rechten den linken Unterarm, deutete dann auf die Westseite des Tals und vollführte mit ausgestrecktem Finger eine kreisende Bewegung. Die Soldaten sollten nach Westen ausschwärmen.
»Ich muß mehr über die Männer erfahren, mit denen du unterwegs warst«, sagte Lin leise zu Lhandro. »Es gibt viele Arten der Befragung.«
Er stieg in den Lastwagen ein.
Das Trommeln dauerte an. In der Ferne sah Shan die Arbeiter beim Bohrturm stehen und zu den oberen Hängen aufblicken. Die wenigen Tibeter, die sich noch im Dorf aufhielten, waren ebenfalls aus den Häusern getreten und starrten nach Westen, einige mit hoffnungsvollen Mienen, andere verängstigt. Der Klang der startenden Motoren ließ Shan sich wieder umwenden. Die Transporter fuhren los, aber nicht zurück zum Öllager, sondern nach Westen, mitten durch die Gerstenfelder. Er vernahm ein leises Wimmern und entdeckte eine winzige Gestalt, die an der Innenseite der Erdmauer kauerte. Es war Anya. Sie hatte sich dort versteckt und den Oberst belauscht.
Sie musterte Shan aus großen furchtsamen Augen, sprang dann auf, rannte den Pfad hinunter und verschwand zwischen den Felsen und Bäumen des Hangs.
»Deine Trommel«, wandte er sich an Lepka, als der alte Mann hinaus ins Sonnenlicht trat. »Wo ist sie?«
»Sie ist letzte Nacht verschwunden«, sagte Lepka achselzuckend, legte sich eine Hand aufs Herz und schloß kurz die Augen, als suche er nach einer Verbindung zwischen dem Trommeln und seinem eigenen Herzschlag.
»Du meinst, jemand aus dem Dorf ist dort oben?«
»Nein«, rief Lepka fröhlich, als sei dies das eigentliche Wunder.
Shan und Winslow sahen sich beunruhigt an, und als Shan im Laufschritt das Dorf verließ und Anyas Richtung einschlug, folgte der Amerikaner ihm dicht auf den Fersen. Sie fanden Anya allein in der Mitte der kleinen Schlucht vor; außer ihr waren nur noch Lokesh und eine Handvoll der Dorfbewohner zugegen. Sowohl Tenzin und die purbas als auch die Kranken hatten sich in Luft aufgelöst.
»Sie sind die Pfade hinaufgestiegen«, sagte Anya verwirrt. »Aber die sind eigentlich nur für Ziegen geeignet.«
Sie wies auf die fast senkrechte Rückwand des kleinen Tals. »So viele Verletzte.«, flüsterte sie. »Sie fliehen. Sie haben die Soldaten gesehen. Sie haben gehört, daß Kriecher im Lager sind. In diesem Tal gibt es keine Heilung mehr.«
Ihre Stimme erstarb abermals. Ein kleines Loch im unteren Teil eines Felsblocks hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie hinkte dorthin, fiel auf die Knie und hielt ihr Auge dicht vor die Öffnung, als rechne sie damit, etwas im Innern zu
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