Das tibetische Orakel
leise, und seine Augen schimmerten feucht. »Das Salz hat wieder seinen Weg zu uns gefunden.«
Lhandro kam zu seinem Vater, kniete nieder und öffnete die Faust, so daß ein Häufchen der strahlendweißen Kristalle zu sehen war. Dann nahm er die trockene runzlige Hand des alten Mannes, ließ das Salz feierlich hineinrieseln und schloß die knorrigen Finger darum. Aus Lepkas Kehle brach wieder dieses pfeifende Lachen hervor, und er drückte sich die Handvoll Salz ans Herz.
Als Shan an die Tür trat, zogen Schafe am äußeren Tor vorbei, alle noch immer mit den Salzbeuteln beladen. Aufgeregte Begrüßungen hallten den Pfad entlang, aber auch Warnungen. Verwirrt ging Shan nach draußen. Auf dem Hang oberhalb des Dorfes standen am Rand der Bäume mehrere Leute aus dem Lager. Einige winkten, andere deuteten auf die eintreffende Karawane. Dann sah Shan jemanden aus der Gruppe weglaufen, als wolle er sich verstecken. Er drehte sich um und erkannte, daß nicht alle Tibeter auf die Karawane gedeutet hatten.
Zwischen den Tieren tauchte Nyma auf. Sie wirkte besorgt. »Die haben all unsere Taschen durchsucht und uns fünf der Schafe abgenommen«, rief sie aus und wandte sich um. Nur wenige hundert Meter hinter dem letzten Schaf fuhren zwei Armeelaster das Tal herauf.
Aus dem Eingang hinter Shan kam Lhandro zum Vorschein, bedeutete seinen Eltern mit erhobener Hand, sie sollten zurückbleiben, schob sich an Shan vorbei und stieß ihn in den Schatten. Während Shan kurz hinter dem Eingang Position bezog, stellte der rongpa sich mitten auf den Pfad, um die Wagen zu empfangen. Entsetzt verfolgte Shan, wie die Transporter anhielten und ein Dutzend Soldaten von den Ladeflächen absaß. Einer von ihnen öffnete die Beifahrertür des vorderen Fahrzeugs, auf der ein Schneeleopard prangte, und ein Mann in Offiziersuniform stieg aus.
»Guten Morgen, Oberst Lin«, rief jemand mit geheuchelter Freundlichkeit. Durch die offene Tür sah Shan, daß Winslow sich zu Lhandro gesellte. Der Amerikaner hatte sich gewaschen, rasiert und ein sauberes Hemd angezogen. »Wieder so ein herrlicher Tag für einen kleinen Ausflug.«
Lin erkannte den Amerikaner sofort. Einer seiner Mundwinkel hob sich. Dann wandte der Oberst sich um und sprach mit jemandem, den Shan nicht sehen konnte. Kurz darauf marschierte ein Soldat an Winslow und Lhandro vorbei. Er hielt ein Klemmbrett und nahm das Dorf mit ruhelosem Raubvogelblick in Augenschein.
»Die amerikanische Botschaft ist nicht befugt, sich in die inneren Angelegenheiten Chinas einzumischen«, knurrte Lin und ging einen Schritt auf Winslow zu. Er sprach laut, als seien die Worte an ein größeres Publikum gerichtet.
»Selbstverständlich nicht«, pflichtete der Amerikaner ihm in sachlichem Tonfall bei. »Das Ölprojekt Qinghai hat aber einen amerikanischen Partner. Eine von dessen Angestellten wird vermißt. Es geht demnach um eine internationale Angelegenheit.«
»Die Frau wird nicht vermißt«, sagte Lin sofort, als habe er sich genau erkundigt, mit welchem Auftrag der Amerikaner in den Bergen unterwegs war. »Sie ist tot. Höchst bedauerlich.«
Durch die Türöffnung erspähte Shan zwei Soldaten, die jenseits der Tiergehege auf der anderen Seite des Pfades das Dorf umrundeten. Sie schienen nach etwas zu suchen.
»Unser Dorf fühlt sich durch die Anwesenheit der ruhmreichen Soldaten der Volksbefreiungsarmee geehrt«, sagte Lhandro mit tonloser Stimme und warf Winslow einen unbehaglichen Blick zu.
»Aber sicher«, sagte Lin amüsiert. Er zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in Lhandros Richtung. »Und es kann nur noch ehrenvoller für euch werden.«
Lin starrte Winslow durchdringend an, als wolle er den Amerikaner durch schiere Willenskraft bezwingen. »Da waren noch andere bei euch. Tibeter. Zwei großgewachsene Männer.«
Er hielt inne und starrte Lhandro erwartungsvoll an.
»Ich hatte einen Fahrer dabei.«, warf Winslow beiläufig ein.
Lins Hand ruckte hoch, als wolle er den Amerikaner züchtigen, blieb dann aber mitten in der Luft stehen und ballte sich zu einer Faust. Der Oberst sah, wie seine Leute im Dorf ausschwärmten, und beschloß, Winslow zu antworten. »Aber wenig später haben Sie sich am Straßenrand absetzen lassen und den Fahrer weggeschickt. Sein Bericht hat die Öffentliche Sicherheit ganz schön in Aufruhr versetzt. Er hätte Sie nicht allein lassen dürfen und wurde für sein verantwortungsloses Verhalten bestraft.«
»Ich wollte zu Fuß weiterlaufen. Wegen der
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