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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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frischen Bergluft. Bei uns heißt das Trekking.«
    »Aber wie haben Sie hergefunden?« wollte der Oberst wissen. »Die Berge sind nahezu unpassierbar.«
    »Nahezu.«
    Lin runzelte die Stirn. »Das Ölprojekt wird diesem Tal großen Wohlstand bringen«, wandte er sich mit wiederum lauter Rednerstimme an Lhandro. »Genosse Lhandro«, fügte er hinzu, als wolle er den rongpa daran erinnern, daß er seinen Namen kannte und immer noch seine Papiere besaß.
    »Vielleicht gibt es hier ja gar kein Öl«, wagte Lhandro zu äußern.
    Mit neuerlicher Belustigung nahm Lin einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »O doch. Die Geologen müssen nur noch die genaue Größe des Vorkommens feststellen. Schon jetzt ist im Lager kaum Platz für all die Arbeiter, und es werden noch mehr kommen, sobald das Öl fließt. Man wird eine Pipeline bauen müssen. Und zum Betrieb der Pumpen wird ein ständiges Arbeitskommando hier stationiert.«
    Lhandro starrte auf die Stiefel des Obersts. »Wir haben einen leeren Stall«, sagte er mit hohler Stimme. »Den könnten wir umbauen und darin Schlafplätze zur Verfügung stellen.«
    Lins Augen blitzten auf, aber es schien sich eher um Vergnügen als um Wut zu handeln.
    »Bitte, Oberst«, flehte Lhandro. »Wir sind einfache Bauern und bewirtschaften dieses Tal schon seit Jahrhunderten. Wir zahlen Steuern. Wir könnten die Arbeiter mit Lebensmitteln beliefern. Wir haben nichts Falsches getan«, fügte er verzagt hinzu, ohne den Blick von Lins Stiefeln abzuwenden.
    »Du hast mir noch nicht erklärt, was du vor ein paar Tagen hundertfünfzig Kilometer südlich von hier zu suchen hattest.«
    »Salz«, sagte Lhandro und deutete auf die Schafe, die von den Dörflern in Pferche am anderen Ende des Dorfes getrieben wurden. »Wir ziehen jedes Frühjahr los, um Salz zu holen.«
    Sogar aus dieser Entfernung sah Shan, daß Lhandros Hand zitterte.
    Lin runzelte erneut die Stirn. »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, Genosse. Ihr benötigt für einen solchen Transport Lizenzen der Monopolbehörde.«
    Lhandro zuckte mürrisch die Achseln und ging zu der Pforte vor seinem Haus. Auf der niedrigen Mauer lag ein offener Salzbeutel. Lhandro griff hinein und streckte Lin eine Handvoll Salz entgegen. »Wir haben etwas Geld und könnten eine Gebühr entrichten«, bot er an.
    Der Oberst seufzte ungehalten und gab einem seiner Soldaten ein Zeichen. Der Mann riß Lhandro den Beutel aus der Hand und warf ihn zu Boden. Dann zog er ein kurzes Bajonett aus dem Gürtel, stocherte in dem offenen Beutel herum und warf Lin einen fragenden Blick zu. Der Oberst nickte, und der Soldat durchbohrte den zweiten Beutel und riß das dichte Wollgewebe auseinander, so daß das kostbare Salz auf der Erde verstreut wurde.
    »Es ist ein besonderes Salz«, rief die Stimme einer Frau. Shan sah, daß Nyma vortrat und sich neben Lhandro stellte. »Es könnte Sie heilen«, sagte sie und sah dem Oberst dabei direkt in die Augen.
    »Ich bin nicht krank.«
    Nyma erwiderte nichts, aber ihr Blick verriet, daß sie anderer Meinung war.
    »Du solltest vorsichtig sein«, sagte Lin mit eisiger Stimme. »Jemand könnte dich mit einer Nonne verwechseln. Nur wenige Kilometer von hier hat die Öffentliche Sicherheit gestern jemanden verhaftet. Unter seinem Mantel trug er ein kastanienbraunes Band um den Arm, und in seiner Tasche steckte ein kleines Stück gelber Stoff.«
    Shan sah, daß Nyma schluckte. Lin sagte, daß man ganz in der Nähe einen purba erwischt hatte, der verwegen genug gewesen war, eine tibetische Flagge bei sich zu tragen.
    Die Anspannung war nun fast zu greifen. Lin grinste den Amerikaner höhnisch an. »Auch in Amerika, Mr. Winslow, wird Landesverrat mit Gefängnis bestraft«, sagte der Oberst und wies auf Lhandro. »Dieser Mann weiß das sehr genau. Er hatte einen alten Kerl mit lao-gai - Nummer bei sich.«
    Lins Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wo ist dieser Alte? Und der Chinese namens Shan, der keine Papiere hatte. Die beiden waren nicht mehr bei euch, als ihr mit den Schafen eingetroffen seid. Falls ihr die Leute versteckt, wird es euch schlimm ergehen, sobald wir sie haben. Und falls jemand von euch etwas besitzt, das mir gehört, wird das gesamte Dorf sich dafür verantworten müssen.«
    Niemand gab einen Laut von sich, während Lins funkelnder Blick über das ganze Dorf schweifte. Schließlich blickte er zu Boden und stieß den Salzbeutel mit der blankpolierten Stiefelspitze an. »Ich bin ein einfacher Mann mit einer einfachen

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