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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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und wurde im nächsten wie von einer unsichtbaren Hand wieder emporgehoben. Während Shan auf das Stück Stoff zuhielt, musterte er den oberen Rand des Tals. Es war eine felsige, zerklüftete Gegend, wie geschaffen für Höhlen, in denen Menschen oder Götter sich verstecken konnten. Shan ließ sich Zeit und nahm das Tal von Yapchi bewußt in sich auf. Er rechnete damit, daß die khata irgendwann liegenbleiben oder sich in einem der niedrigen Sträucher verfangen würde, die am Übergang zwischen dem Grund des Tals und den steileren Hängen wuchsen. Doch ausgerechnet an dieser Stelle schoß der Gebetsschal hoch in die Luft und vollführte einige Kapriolen, als wäre er eine Taube, die nach einem Leben im Käfig nun die neu gewonnene Freiheit genoß. Dann schwebte er auf den Wald im Norden zu.
    Shan überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte. Doch es würde noch mehr als eine Stunde hell sein, und auch im Dunkeln dürfte der Rückweg entlang des Pfades für ihn kein Problem darstellen. Er mußte das Tal verstehen. Er mußte begreifen, wo sich unter Umständen eine Gottheit verbarg. Oder zumindest, wohin eine entwichene khata fliehen würde. Auf dem Weg zum Waldrand blieb er mehrere Male kurz stehen, um den Bohrturm und das Öllager zu betrachten, bevor er sich wieder dem Punkt zuwandte, an dem der Schal ihm zuletzt aufgefallen war. Nach zehn Minuten sah er etwas Weißes in den unteren Ästen einer Kiefer hängen, genau dort, wo der Hang sich nach Osten krümmte.
    Der Wind trug das Dröhnen von Kettensägen an Shans Ohren. Er nahm sein Fernglas und suchte den Ausgang des Tals ab, das von der Ölfirma gerodet wurde. Es gab mehr Wohnanhänger, als er zunächst geglaubt hatte: zwei Reihen mit je fünf der rechteckigen Einheiten, die für die rongpas lediglich Metallkästen darstellten und es nicht wert waren, als Häuser bezeichnet zu werden. Hinter den Anhängern standen mehrere Zelte sowie Lastwagen aller Größen, von leichten Transportern bis zu schweren Kippern. Ein großes, an den Seiten offenes Zeltdach schien als Garage zu fungieren. Oberhalb des Lagers erstreckte sich die breite Schneise voller Stümpfe bis hinauf zu der Klippe, die den Abschluß des Tal bildete. Mindestens zwei Dutzend Männer waren damit beschäftigt, in erschreckend hoher Geschwindigkeit Bäume zu fällen.
    Shan holte die khata , faltete sie zusammen und steckte sie ein. Dann schlich er näher und achtete sorgfältig auf jeden Baum oder Felsen, der ihm als Deckung dienen konnte. Er befand sich nur noch zweihundert Meter vom Rand des Lagers entfernt, als er einen dicken Stamm fand, den das Alter und nicht etwa eine Säge gefällt hatte. Er ging dahinter in Stellung und nahm das Lager genauer in Augenschein. Auf der ihm zugewandten Seite lag eine Wiese, die offenbar von Schafen abgegrast worden war. Zehn oder zwölf Männer spielten dort Fußball und nahmen die Sache augenscheinlich sehr ernst, denn sie brüllten laut, klangen dabei aber nicht fröhlich. Hinter ihnen stieg in der Nähe der Zelte der Rauch mehrerer Kochfeuer auf. Shan sah so etwas nicht zum erstenmal. Einen Tentakel hatte Drakte ein Holzfällerlager genannt, auf das sie während ihrer gemeinsamen Reise gestoßen waren. Einer der Tentakel, die bis nach Peking reichten, hatte der purba gegrollt. Auf diese Weise setzte Peking sich auch noch in den entlegensten Winkeln fest, demonstrierte seine Macht und nahm sich die Reichtümer des Landes.
    Als Shan noch einmal zu den Holzfällern blickte, bemerkte er mehrere Männer, die in gleichmäßigen Abständen am Rand des Areals standen. Wieso benötigte man hier Wachposten? Es gab doch kaum noch Raubtiere, die den Männern gefährlich werden konnten. Dann fiel Shan wieder ein, daß man Leute aus Yapchi dienstverpflichtet hatte. Die Posten dort sollten die Arbeiter nicht beschützen, sondern an der Flucht hindern. Was für eine grausame Folter! Die rongpas wurden nicht nur zu Gefangenen in ihrem eigenen Tal, sondern mußten auch noch eigenhändig ihre Schätze vernichten.
    Während die Sonne hinter dem Rand des Tals verschwand, wagte Shan sich näher an die Wiese, weil er hoffte, einen Gesprächsfetzen aufschnappen oder einen Akzent heraushören zu können, der ihm vielleicht ein wenig mehr über das Ölprojekt Qinghai verraten würde. Doch dann erstarrte er vor Schreck. Obwohl die Fußballspieler verschiedene T-Shirts oder Unterhemden trugen, waren alle mit derselben Art von robuster und neuwertiger Hose ausgestattet - ein Team in

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