Das tibetische Orakel
Grün, das andere in Grau. Alle trugen sie die gleichen schweren, hohen schwarzen Stiefel und waren von schlanker muskulöser Statur. Am anderen Ende der Wiese stand ein großer grauer Lastwagen mit einem Emblem auf der Tür. Shan hob das Fernglas und erwartete, das Bohrturm-Logo des Projekts zu erblicken, aber es war ein Schneeleopard. Hinter dem Laster parkten mehrere Geländewagen mit grauer Lackierung. Bei den Männern handelte es sich nicht um Ölarbeiter, sondern um Soldaten. Lins Gebirgsjäger waren hier und spielten Fußball mit den Kriechern.
Bei Anbruch des nächsten Tages traf eine kleine Gruppe Tibeter in dem Lager hinter dem Dorf Yapchi ein. Als Anya ihre Schritte hörte, lief sie sogleich los, weil sie, wie Shan wußte, mit der Karawane rechnete, doch am Eingang der kleinen Schlucht blieb sie stehen. Eine Frau mit einer Krücke kam angehinkt, gefolgt von einem kleinen Jungen, der unbeholfen voranschlurfte. Seine Füße wiesen nach innen, und aus seinem Mund hing ein Speichelfaden. Es gab noch vier weitere: eine Frau, deren Augen vom grauen Star getrübt waren und die von einem halbwüchsigen Jungen geführt wurde, und ein stämmiger Mann mit zerlumpter chuba , der eine zerbrechlich wirkende Frau trug. Sie schlief in seinen Armen wie ein Kind.
Die Neuankömmlinge verharrten schweigend und musterten die Schlafenden, die überall am Boden lagen.
»Er ist nicht hier«, sagte Chemi sanft und entschuldigend, und plötzlich wurde Shan alles klar. Die Kranken kamen nach Yapchi. Sie mußten sich ohne Nachtruhe hergeschleppt haben, um den Lama-Heiler zu finden. Der Hirte, der die Frau trug, legte sie auf eine Decke und rieb sich die Augen. Shan glaubte Tränen zu sehen.
»Aber ich habe ihn getroffen«, fügte Chemi aufmunternd hinzu. »Er hat mich geheilt.«
Die verkrüppelte Frau blickte ungläubig auf. »Der, den wir suchen, stammt aus den alten Tagen. Es gab Geschichten aus den Bergen. Doch all jene, sie sind vor langer Zeit gestorben. Manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als den Geschichten zu folgen.«
Ihre Stimme erstarb, und sie blickte zu Boden. »Manche behaupten, er sei gekommen, um den Stuhl des Siddhi einzunehmen. Andere sagen, er sei aus einem boyal herübergewechselt, um unser Leid zu lindern.«
»Ich habe ihn getroffen«, wiederholte Chemi eindringlich. »Er hat mich geheilt.«
Die Frau starrte Chemi mit offenem Mund an, als habe sie erst jetzt ihre Worte gehört. »Lha gyal lo« , brachte sie krächzend über die Lippen und geriet ins Wanken. Chemi sprang vor und fing die Stürzende auf.
Shan ging zu dem kleinen Feuer im hinteren Teil des Tals und brachte Chemi eine Schale Tee für die Frau. »Was hat sie mit dem Stuhl des Siddhi gemeint?« fragte er.
»Das ist eine alte Sage«, erwiderte Chemi beunruhigt, warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute wieder weg.
»Es geht um den Widerstand«, flüsterte Lokesh, der unversehens auftauchte und sich neben die Kranke kniete. »Ich habe die purbas ganz aufgeregt davon erzählen gehört. Sie sagen, vor vielen Jahrhunderten habe ein Lama namens Siddhi in dieser Region den Widerstand gegen die mongolischen Invasoren organisiert. Er einte die Leute wie noch nie jemand vor ihm und sorgte dafür, daß die Mongolen nicht mehr zurückkehrten.«
»Er hatte ein Versteck in den Bergen«, erklärte Chemi. »Eine kleine Lichtung irgendwo hoch oben. Dort gibt es einen Felsen, der wie ein Stuhl geformt ist und auf dem er dann saß und zu den Leuten sprach. Die Menschen gehen schon seit Jahren dorthin und beten. Manche behaupten, er sei ein Krieger gewesen. Andere glauben, daß er ein Heiler war, der dem Volk einfach nur Hoffnung und Stärke einflößen konnte.«
Lokesh schien Shans zweifelnde Miene zu bemerken. »Sie wollen an solche Dinge glauben«, sagte der alte Tibeter und nickte in Richtung einer weiteren Schar Neuankömmlinge, die sich mit dem älteren purba berieten. »Es heißt, in weitem Umkreis würden alle über Yapchi reden. Sie sagen, falls wieder ein echter Lama auf dem Stuhl des Siddhi säße, könnten sie die Chinesen nicht nur aus dem Tal, sondern aus der gesamten Region vertreiben,«
Shan machte sich allein auf den Weg ins Dorf. Seit letzter Nacht empfand er ein seltsames Schuldgefühl. Der Gedanke an die kranken Tibeter verfolgte ihn. Er hätte nicht herkommen dürfen, denn seine Ankunft verlieh den Leuten von Yapchi neue Hoffnung, obwohl dazu nicht der geringste Anlaß bestand. Peking war auf dieses wunderschöne Tal aufmerksam
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