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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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erblicken.
    »Warum interessiert er sich so sehr für Lokesh?« fragte Winslow, der zusammen mit Shan das Mädchen beobachtete.
    »Es wurde etwas gestohlen, von dem Lin annimmt, daß es nach Yapchi zurückgebracht wird«, sagte Shan voller Sorge. »Als er im Süden auf Reisende aus Yapchi stieß, war ein ehemaliger lao-gai-Sträfling bei ihnen. Ich glaube, er wollte andeuten, daß Lokesh ein geeigneter Verdächtiger wäre und verhaftet werden könnte, falls Lin nicht das erhält, was er will.«
    »Sie meinen das Auge.«
    »Ich glaube, es geht nicht mehr um das Auge. Wegen eines Stücks Stein würde Lin sich nicht solche Umstände machen. Ich schätze, er ist hinter dem Dieb des Auges her.«
    »Dremu wollte den Stein stehlen, aber die purbas haben ihn davon abgehalten«, erinnerte Winslow sich.
    Shan nickte. »Sie hatten andere Pläne. Vielleicht ist es ihnen gelungen, einen Maulwurf einzuschleusen. Lin könnte es sich nicht leisten, so jemanden entkommen zu lassen. In seiner Dienststelle gab es bestimmt noch wesentlich wichtigere Dinge als den chenyi-Stein.«
    »Sie meinen, Lin glaubt, der Dieb könnte Geheiminformationen gestohlen haben. Die suchen also nach einer Art Spion?«
    Spion. An dieses Wort hatte Shan noch gar nicht gedacht. Bei Lin verhielt es sich da zweifellos anders. Es würde einen Sinn ergeben. Es würde erklären, weshalb die Gebirgsjäger auf den Spuren einer Gottheit den ganzen Weg aus Lhasa hergekommen waren.
    Jemand lief an ihnen vorbei und beugte sich über Anya. Es war Lhandro, und als er dem Mädchen sanft auf die Beine half, warf er Shan und Winslow einen entschuldigenden Blick zu. »Sie vergißt manchmal Dinge«, sagte er, als könne das Mädchen ihn nicht hören. Anya richtete sich auf, starrte an ihnen vorbei und suchte ruhelos die Landschaft ab, als würde sie die Leute gar nicht wahrnehmen. »Manchmal kann sie nichts anderes mehr tun, als nach Göttern Ausschau zu halten. Ich glaube, es ist eine der Arten, auf die sie mit Anya in Kontakt treten. Mitunter müssen wir loslaufen und mit den Hunden nach ihr suchen wie nach einem alten Mönch«, fügte er hinzu und bezog sich dabei auf die Tatsache, daß manche alten Mönche vom Weg abkamen, weil sie in religiöser Verzückung oder tiefer Meditation den Bezug zur Außenwelt verloren.
    Als Lokesh dem Mädchen einen Arm um die Schultern legte und es zu einem Ruhelager führte, wirkte Lhandro erleichtert. Dann wurde sein Blick sehr ernst und suchte die Schlucht ab. »Wo steckt er? Es führen Hufspuren ins Tal.«
    »Dremu?« fragte Shan. Er hatte nicht mehr an den golok gedacht, seit der am Vortag weggeritten war.
    »Der Mistkerl hat sich abgesetzt«, sagte Lhandro. »Vielleicht verhandelt er jetzt schon mit den Soldaten über die Rückgabe.«
    »Die Rückgabe des Auges?« fragte Shan.
    »Natürlich, was denn sonst? Er wußte genau, wo es war. Gestern morgen ist er abgehauen. Er kennt sich in den Bergen aus. Und er hat Helfer. Wir haben die Spuren von drei Pferden entdeckt, nicht nur von einem.«
    Lhandro schaute zu Anya und Lokesh. »Er wird uns alle verkaufen, wenn der Preis stimmt.«
    Shan ging dicht hinter Winslow, als sie sich eine Stunde später dem Öllager näherten. Der Amerikaner hatte zunächst protestiert, als Shan sagte, er würde ihn zu dem Manager begleiten, doch Shan hatte gedroht, ansonsten ganz allein loszuziehen. »Lin will Sie in die Finger bekommen und in Ketten legen«, warnte Winslow.
    »Lin hat in den Zelten hinter dem Öllager Quartier bezogen«, wandte Shan ein. »Er rechnet nicht damit, daß ich einfach so daherspaziert komme. Und auch die anderen werden keinen Verdacht schöpfen, wenn ich wie Ihr Begleiter wirke.«
    Winslow hatte widerstrebend eingewilligt, unter der Voraussetzung, daß Shan ständig bei ihm blieb, nur englisch sprach und die Rolle eines Assistenten spielte. Sie benötigten eine halbe Stunde, um Shan halbwegs präsentabel aussehen zu lassen: Im Dorf fand sich eine fast neue Jacke für ihn, über der er nun die rote Nylonweste des Amerikaners trug. Schließlich hängte Winslow ihm noch das teure Fernglas um den Hals.
    Der Amerikaner fing an, ein Lied zu pfeifen, als der Bohrturm in Sicht kam, und schoß mehrere Fotos. Die Arbeiter winkten ihm zu, als wäre er ein Tourist. Es waren breitschultrige Männer, sowohl Chinesen als auch Tibeter, die stolz grinsten und für Winslow posierten, indem sie die riesigen Schraubenschlüssel und Hämmer emporreckten.
    Zweihundert Meter vor dem Lager befand sich ein

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