Das tibetische Orakel
fragte er in neuem, schärferem Tonfall.
Jenkins seufzte. »Ist Ihnen eigentlich klar, was wir hier alles bewältigen müssen? Es gibt feste Termine. Die verdammten Banken kommen zu einer Besichtigungstour. Jemand hat mir letzte Nacht die Hälfte der Werkzeuge aus der Garage geklaut. Und eine Horde Bürokraten lauert darauf, in weniger als zwei Wochen hier einzufallen und unser Öl zu feiern, obwohl wir noch gar keines gefunden haben.«
»Haben Sie versucht, Melissa zu bergen?« wiederholte Winslow.
Jenkins seufzte erneut und ließ sich ächzend auf einen der Stühle fallen, während die Frau zwei große Becher schwarzen Tee brachte. »Der Versorgungshubschrauber aus Golmud. Gleich nachdem ich von Zhu die Einzelheiten erfahren hatte, habe ich die Jungs gebeten, die Stelle zu überfliegen. Sie haben nichts gesehen und mußten zum Stützpunkt zurückkehren. Ich schicke ein Team zu Fuß hin. Ehrlich. Versprochen. Aber nicht in den nächsten zwei Wochen. Sie läuft uns nicht weg. Es sei denn, sie ist in den Fluß gefallen. In dem Fall hat die Strömung sie längst fortgespült.«
Der große Amerikaner schaute von Shan zu Winslow. »Es tut mir leid, Winslow. Aber ich rede nicht gern um den heißen Brei herum. Ich kannte Melissa schon länger. Das hier war unser zweites gemeinsames Projekt. Sie war großartig. Meine Mutter hat immer gesagt, die hellsten Sterne würden stets als erste verglühen. Nächtelang habe ich wachgelegen und mich gefragt, ob ich irgendwas falsch gemacht habe. Drei Briefe an ihre Familie habe ich geschrieben und wieder zerrissen. Was sollte ich denn schreiben? Ihre Tochter, die erfahrene Geologin, die Außenteams in Sibirien, den Anden und Afrika geleitet hat, ist leider gestolpert? Einer meiner tibetischen Vorarbeiter hat gemeint, vielleicht hätten die Berggötter sie zu sich gerufen.«
»Aber sie wurde doch schon vor dem eigentlichen Unfall vermißt«, gab Shan zu bedenken und sah sich ein weiteres Mal im Raum um. In einem Ablagefach des Metalltisches lag ein Stapel Zeitungen, offenbar die Wochenzeitung aus Lhasa.
Jenkins trank einen großen Schluck Kaffee. »Gewissermaßen«, sagte er. »Ich habe schon früh gelernt, ihr Freiraum zu lassen. Ein starker Wille braucht eine lange Leine. Melissa war immer am liebsten draußen im Projektlager, nicht in irgendeiner Stadt. Und im Lager nahm sie jede sich bietende Möglichkeit wahr, um zu einer Erkundungstour aufzubrechen. Sie freundete sich mit den Tibetern an und gab ihnen Englischunterricht. Bei einer unserer Besprechungen hat sie behauptet, Amerika würde Tibet brauchen, was auch immer das bedeuten mochte. Sie hat ihre Arbeit geliebt und gesagt, sie würde sich wie einer der frühen Forschungsreisenden vorkommen. Hier hat es ihr ganz besonders gefallen. Sogar ihre freien Tage hat sie oben in den Bergen verbracht und neue Karten angefertigt.
Die chinesischen Karten sind miserabel. Manche Orte sind absichtlich falsch eingezeichnet - aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Ganze Regionen wurden noch nie vermessen. Wer weiß, was da draußen alles stecken mag?«
Er trank erneut. »Es gibt noch ein Projektcamp, ein britisches, zwei Bergketten nördlich von hier, ungefähr achtzig Kilometer entfernt. Ich dachte, womöglich ist ihr Funkgerät kaputt, und sie hat sich zu dem anderen Lager aufgemacht. Oder vielleicht wurde jemand aus ihrem Team verletzt, und es war einfacher, ihn auf der anderen Seite der Berge in Sicherheit zu bringen. Ich habe mir immer wieder eingeredet, daß es hundert verschiedene Gründe für die abgerissene Verbindung geben konnte. Eventuell ein Tal ohne Ausgang, bei dem der Rückweg durch eine Lawine blockiert war. Als sie hier aufbrach, hat sie nur die Hälfte ihrer Proviantrationen mitgenommen. Vielleicht wollte sie sich in einem Dorf etwas zu essen holen. Nach dem Augenzeugenbericht gab es keine Zweifel mehr. Zhu übernahm und verständigte von hier aus die Zentrale. Und er hat einen Bericht in dreifacher Ausfertigung verfaßt. Es gibt hier besondere Formulare für Todesfälle. Die Firma hat zehntausend Angestellte, da kommen immer wieder Unfälle vor. Aber einer meiner Landsleute war bis dahin noch nie gestorben.«
Jenkins starrte in seinen Kaffeebecher. »Er hat das Formular abgeschickt. Er hat mich gegenzeichnen lassen und es abgeschickt. Für die ist das bloß ein verdammter Verwaltungsvorgang. Als Antwort kam lediglich ein kurzes Memo der Firma, daß man für die Hinterbliebenen daheim einen Gedenkstein bezahlen
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