Das tibetische Orakel
erkannte Shan, daß sie womöglich glaubten, ein anderer Gott habe sich ihnen anschließen wollen und sei nun von den Chinesen ermordet worden. Langsam kehrten alle an ihre Arbeit zurück. Verblüfft beobachtete Shan, wie Lhandros Mutter und Nyma anfingen, Stoffetzen an die Fensterbretter und Gehegewände zu hängen oder mit Steinen am Boden zu verankern. Einige waren khatas , andere kleine Gebetsfahnen. Mehrere Dörfler fegten die Eingänge ihrer Häuser, und manche wuschen sogar die Wände ab. Ein Mann hielt eine Dose mit schwarzer Farbe und malte in großen Buchstaben das mani-Mantra auf die Vorderseite seines Hauses. Zwischen zwei der Gebäude sah Shan ein Dutzend Leute im Kreis sitzen und Mantras rezitieren. Es war ein vertrauter Anblick für ihn, traurig und erhebend zugleich, denn es zeigte, wie die Tibeter und Chinesen ihre Schlachten ausfochten. Gebetsfahnen und Mantras gegen Kampfpanzer.
Wie zur Vervollkommnung der festlichen Stimmung ließ Lhandro mitten auf dem Weg ein großes Feuer entzünden. Seine Mutter und seine Frau brachten einen großen Topf und reichlich Butter und fingen an, für das gesamte Dorf Tee zuzubereiten. Sie würden das neue Salz nehmen, verkündete Lhandro, und seine Mutter holte eine alte dongma , in der man schon Tee angemischt hatte, als Lepka noch ein kleiner Junge gewesen war.
Während sie den Tee tranken, erzählte Lhandros Vater eine seit vielen Generationen weitergegebene Geschichte - die Geschichte vom Bau ihres Hauses, in der lang und ausführlich geschildert wurde, wie man nur die stärksten Bäume ausgesucht und vor jedem zunächst gebetet hatte, bevor man ihn fällte; wie ferner die Clan-Mitglieder bis weit über die Baumgrenze zu den Gletschern hinaufgestiegen waren, um von dort Steine für das Fundament zu holen, weil diese so nahe bei den Himmelsgöttern geweilt hatten und die Sprache des Windes kannten, so daß sie ihn bitten würden, stets nur sanft über das Tal zu wehen.
Eine Art Glücksgefühl machte sich unter den Menschen breit. Shan entdeckte mehr als einen, der sich verstohlen die Tränen aus den Augen wischte, und einige andere gingen denen zur Hand, die ihre Häuser putzten. Die Gruppe am Feuer stimmte ein Lied an, zuerst ganz leise, dann immer kraftvoller. Lokesh sah Shan verwirrt an. Es war, so wurde ihm klar, eines von Lokeshs Reiseliedern, ein Pilgerlied, ein Lied einsamer Wanderer.
Als die Armeelaster wieder auftauchten und langsam das Tal heraufkamen, wirkte niemand im Dorf überrascht. Lhandro seufzte und half seinem Vater zurück ins Haus. »Diesmal werden sie alles gründlich durchsuchen«, sagte er zu Shan und reichte ihm seinen Schnürbeutel. »Du mußt mit Lokesh den Hang hinaufsteigen. Ihr könnt hier nichts mehr tun. Nehmt den Pfad, auf dem Anya euch aus Chemis Dorf hergebracht hat. Jemand wird euch finden.«
Winslow war bereits aufgebrochen, winkte ihnen zu und eilte im Laufschritt weiter, doch Shan und Lokesh folgten ihm nicht. Sie blieben im Schatten des ersten großen Baumes über dem Dorf stehen und beobachteten die Ankunft der Lastwagen. Das erste Fahrzeug wendete, so daß die Ladefläche in Richtung des Dorfwegs wies. Einer der Soldaten schlug die Plane zurück. Dort hinten saßen zwölf Männer in voller Kampfausrüstung. Schaudernd trat Shan einen Schritt vor. Oberst Lin stieg aus dem Führerhaus des Transporters. Seine Soldaten blieben jedoch sitzen, als warteten sie auf einen Befehl. Lin hob ein Megaphon an den Mund.
»Bürger des Tals von Lujun«, begann er. »Euch wird seitens der Volksregierung die Ehre zuteil, an der großen ökonomischen Erschließung dieser Region mitwirken zu dürfen. Eine neue Sonne geht auf, und alle Völker Chinas umarmen euch heute.«
Shan erinnerte sich an sein Fernglas und holte es aus dem Beutel.
Die Dorfbewohner hatten ihre Arbeit niedergelegt; niemand sang mehr. Einige stellten sich hinter Lhandro, als der zwischen den Lastwagen und dem Dorf Position bezog. Aus dem ersten Haus tauchte eine Gestalt auf. Sie stützte sich auf einen Stock und trug einen Jutesack über der Schulter. Es war Lepka, der aufrechter und kraftvoller einherschritt, als Shan es bislang bei ihm gesehen hatte. Er trat an die Seite seines Sohnes, während die Soldaten aus dem zweiten Transporter einen Klapptisch und einen Stuhl zum Vorschein brachten und nahe des Dorfeingangs aufstellten, ein Stück von Lhandro entfernt. Ein Mann in einer der grünen Nylonjacken ging mit einem Klemmbrett zum Tisch und setzte sich. Zwei
Weitere Kostenlose Bücher