Das tibetische Orakel
an seine Fährte geheftet haben konnte. Ihm fiel wieder ein, was Anya während der ersten Nacht auf dem Berg Yapchi gesagt hatte. So viele tot, so viele todgeweiht, hatten die Worte des Orakels gelautet.
Shan setzte sich, starrte in den Himmel und flehte die Sterne an. Wenn er doch nur einfach Lokesh nehmen und weggehen könnte. Es war ihm nicht mehr möglich, den Tibetern noch Hoffnungen zu machen; es würde ihm nie gelingen, die Geheimnisse zu ergründen, die Norbu gompa und das Tal von Yapchi umgaben. Das einzige, was er klar erkannte, war die Gefahr. Nach einer ganzen Weile bewegte sich etwas vor ihm in der Dunkelheit. In einiger Entfernung saß ein Mann auf einem Felsen und hielt einen glänzenden Gegenstand. Sein Blick war nicht auf Shan, sondern hinaus auf die Ebene gerichtet.
»Die Lamas haben keine Geduld mit mir«, erklang plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihm. »Sie sagen, ich solle nicht erwarten, in einem einzigen Leben dermaßen viel zu erreichen.«
Es war eine ungewöhnliche Stimme, heiser und kraftvoll. Wie hatte Lhandro sie beschrieben? Als würde jemand flüsternd schreien. Die Kriecher hatten ihn am Kehlkopf verletzt.
Als Shan sich zu dem Mann mit dem vernarbten Gesicht umwandte, entdeckte er ein paar Schritte hinter ihm eine zweite Wache auf einem Felsen.
»Ich habe ihnen erzählt, daß ich als Junge von Lehrmeistern der tantrischen Schule unterrichtet wurde, und die haben mir beigebracht, daß es mit der richtigen Handlungsweise möglich sei, innerhalb einer Lebensspanne die Buddhaschaft zu erreichen.«
Shan begriff, daß er noch nie einen anderen Namen dieses Mannes gehört hatte. Er verlagerte unbehaglich sein Gewicht und fragte sich, wie viele Bewaffnete dort wohl noch in den Schatten lauern mochten. Und wie oft der Tiger sich wohl nachts mit einem Chinesen unterhielt.
»Ich sage den Lamas, daß mein Bestreben im Vergleich dazu äußerst bescheiden ausfällt.«
Der Mann setzte sich neben Shan und beobachtete einen Moment lang den Himmel. »Wenn du ständig auf der Flucht bist und dich immer nur nach Sonnenuntergang fortbewegen kannst, wird der Nachthimmel dein Zuhause.«
Er klang auf einmal sehr müde. »Es gibt da diesen Mann, der einen Brief verfaßt hat. Oberst Lin ist kein Freund Tibets. Es wurde über ihn geschrieben, mehr als einmal.«
Geschrieben. Der Tiger meinte die Einträge im Lotusbuch, dem Verzeichnis der Greueltaten gegen Tibeter, das die purbas angelegt hatten.
»Ich würde gern etwas Zeit mit diesem Oberst verbringen«, sagte der purba -Führer. »Ihn irgendwohin mitnehmen. Man könnte viel Wertvolles in Erfahrung bringen.«
Shan spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Lin ist verletzt«, sagte er zaghaft und sah dem Mann ins Gesicht. »Warum machen Sie sich die Mühe, mit mir darüber zu sprechen? Die purbas wissen, wo Lin ist.«
Der Mann sagte nichts. In der Ferne regte sich etwas, und einer der Bewaffneten sprang auf. Nach einem Moment hörte Shan das Getrappel kleiner Hufe, die einer wilden Ziege oder Gazelle gehörten, und der purba , kehrte auf seinen Posten zurück. Shan musterte den Tiger. Er wirkte wie ein weiterer Stein in der Nacht, eine einsame Statue, deren Gesicht langsam vom Wind abgeschliffen wurde. Shan erkannte, daß der Tiger womöglich viele der Fragen beantworten konnte, die ihm zu schaffen machten.
»Warum sind keine Kriecher hier?« fragte er unvermittelt. »Wieso hat nicht die Öffentliche Sicherheit den Abt von Sangchi übernommen?«
Der Tiger seufzte. »Diejenigen, in deren Gewalt er sich befindet, sind Kriecher und sind es zugleich nicht. In diesem Bezirk ist vieles unklar. Sogar diese Kriecherärzte wissen nicht genau, wem sie unterstellt sind. Wir haben eine ihrer Anfragen nach Lhasa abgefangen, in der sie um weitere Anweisungen bitten. Sie möchten hinauf zur Ebene der Blumen, um dort nach dem Lama-Heiler zu suchen, doch Tuan und dieser Abt Khodrak wollen, daß sie hierbleiben.«
»Aber wenn Mönche zu politischen Einpeitschern werden, was können die Menschen da noch tun...?«:
Shans Stimme erstarb.
»Ganz recht«, sagte der Tiger grimmig.
»Somo hat gesagt, es würden irgendwo noch fünf weitere Kriecher für Tuan arbeiten.«
»Wir können sie nicht finden. Niemand weiß, wo sie sind. Alle Sicherheitsmaßnahmen wurden verschärft, und bei unseren Treffen ist derzeit kein neues Gesicht mehr zugelassen. Wir haben überall im Bezirk Bescheid gegeben, aber diese fünf bleiben verschwunden. Alle sind mißtrauisch und sehr
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