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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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zusehen.«
    Shan hob die Decke an. Lokeshs Knöchel war geschwollen und violett verfärbt.
    »Lokesh hat nichts verraten, sondern nur sein Mantra aufgesagt, als sie die Schraube angezogen haben. Schon vorher hatte er mich gewarnt, daß man ihm etwas antun würde. Ich solle mir keine Sorgen machen, hat er verlangt, denn es sei bloß eine Glaubensprobe, sonst nichts, und er sei derartige Proben gewohnt. Allerdings müsse auch ich bei dieser Probe meinen Glauben unter Beweis stellen.«
    Einen Moment lang übermannte Shan die Wut. Man hatte seinen Freund gefoltert, hatte die Zwinge langsam immer enger gedreht, bis ein Knochen gebrochen war. In einem gompa. Und wofür? Um etwas über Shan herauszufinden? Nein. Es ging um Tenzin und um die purbas , die ihm geholfen hatten. Und man wollte den Abt von Sangchi überzeugen, wieder den vorgeschriebenen Weg einzuschlagen.
    Lokesh konnte nicht laufen. Deshalb gab es hier nur so wenige Wachen. Und mit einer Rettungsaktion der Tibeter hätten die Schreihälse niemals gerechnet.
    »Ich glaube, ich könnte zum Fenster hinaus fliehen«, sagte Tenzin. »Aber ich werde ihn nicht zurücklassen.«
    »Die Ärzte«, sagte Shan. »Es gibt hier doch dieses Sanitätsteam, das sich um sein Bein kümmern könnte.«
    »Darum habe ich bereits gebeten«, erwiderte Tenzin matt. »Dieser Khodrak und Direktor Tuan meinten, sie würden es sich überlegen. Zuerst soll ich mich schriftlich verpflichten, eine Rede zu halten, in der ich behaupte, ich hätte mich zurückgezogen, um die Klarheitskampagne zu vervollkommnen, und daß die Behörden in Lhasa sich geirrt hätten, als sie dachten, ich würde fliehen. Angeblich habe ich mich die ganze Zeit damit beschäftigt, wie man das buddhistische Gedankengut mit dem chinesischen Sozialismus vereinen kann. Ich habe ihnen erzählt, ich hätte tatsächlich über diesen Punkt nachgedacht.«
    Tenzin warf einen weiteren gequälten Blick auf Lokesh. »Er beklagt sich nicht. Wenn Lokesh bei Bewußtsein ist, betet er einfach nur oder singt eines seiner Pilgerlieder. Man hat ihm Papier gegeben, damit er schriftlich Selbstkritik üben kann, doch er arbeitet weiterhin an einem Brief für den Vorsitzenden in Peking und sagt, er wolle ihn eigenhändig abliefern. Manchmal faltet er kleine Zettel und bittet mich, sie aus dem Fenster zu werfen. Er sagt, es würden starke Pferde kommen, und wir könnten uns dann aus dem Fenster auf ihre Rücken fallen lassen und wegreiten.«
    Shan starrte voller Mitgefühl seinen alten Freund an. »Da man euch hierbehält, hofft man offenbar weiterhin auf dein Einlenken«, sagte er.
    Tenzin seufzte. »Khodrak führt sich auf, als sei ich seine persönliche Beute. Ich habe gehört, wie er zu Tuan sagte, etwas Besseres habe ihnen gar nicht passieren können. Sie haben eine ranghohe Delegation des Büros für Religiöse Angelegenheiten zum Fest eingeladen.«
    Shan konnte den Blick nicht von Lokesh abwenden. Er nahm eine Hand des alten Tibeters und drückte sie. Lokesh öffnete die Augen und schaute Shan schlaftrunken an. Dann hob er seine andere Hand und berührte Shans Wange, als wolle er sich vergewissern, daß er nicht träumte.
    Auf einmal zog Gyalo ihn weg. »Der Posten hat seine Kekse aufgegessen. Falls er sich für uns zu interessieren beginnt, werden wir ganz schön in Schwierigkeiten kommen, mein Freund«, drängte er.
    Lokeshs Augen schlossen sich wieder.
    Tenzin packte Shan am Arm. »Hör gut zu. Sie können jeden Moment zurückkommen«, sagte er eindringlich und sah Shan voll tiefer Verzweiflung in die Augen. »Falls wir verschwinden, muß jemand darüber Bescheid wissen. Er ist wegen mir dorthin gegangen. Er ist wegen mir gestorben.«
    Shan und Gyalo erstarrten. Der Abt von Sangchi wirkte plötzlich sehr alt. »Manchmal kann ich nicht schlafen, weil ich ihn dort sterbend auf dem Mandala stehen sehe.«
    Shan schluckte. »Soll das heißen, du hast Drakte nach Amdo geschickt?«
    Tenzin nickte. »Er wollte ohnehin in die Stadt, aber ich habe ihn gebeten, eines der Lotusbücher ausfindig zu machen und zu mir zu bringen. Also hat er es versucht, und die Kriecher haben ihn deswegen umgebracht. Er hat das Buch und sein Leben verloren, alles wegen mir.«
    Obwohl Gyalo an seiner Schulter zerrte, rührte Shan sich nicht von der Stelle, sondern schaute von Tenzin zu Lokesh und dann zu dem Papier auf dem Tisch. Schließlich zog er langsam den Beutel mit der elfenbeinernen Gebetskette aus der Tasche. »Drakte sollte mit all deinen Sachen eine

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