Das tibetische Orakel
nervös. Es wird immer gefährlicher.«
Sie saßen schweigend da. Ganz in der Nähe zirpten Grillen.
»Ich bin zu der Einsiedelei gegangen, wo für euch alles anfing, aber ihr wart schon aufgebrochen«, sagte der Tiger dann. »Die dropkas dort haben uns von einem alten Lama erzählt, der Draktes Leiche weggebracht hat. Wir sind ihm gefolgt und dann bei dem durtro geblieben, bis die Geier ihr Werk vollendet hatten. Und wir haben versucht zu begreifen, was mit Drakte geschehen war. Wir haben bis tief in die Nacht geredet, und als wir aufwachten, war dein Lama bereits in die Berge aufgebrochen.«
Hatte er sich in dem Tiger geirrt? War der Mann hier, um Drakte zu rächen? »Ich weiß, daß Drakte in jener Nacht in Amdo gewesen ist«, sagte Shan. »Er wollte eines der Lotusbücher holen. Aber warum gerade dort? Hätte sich nicht jemand irgendwo außerhalb mit ihm treffen können, um so das Risiko einer Stadt zu vermeiden?«
»Diese verdammte Klarheitskampagne. Die Schreihälse führen eine Liste über ihr wirtschaftlichen Erfolge. Zuerst haben wir noch darüber gelacht, aber dann hat dieser Khodrak beschlossen, mit seinem gompa die höchste Wertung von ganz Tibet zu erzielen. Und das ist ihm auch gelungen.«
Der Tiger betrachtete einen besonders hellen Stern.
»Aber das muß doch glatt gelogen sein«, sagte Shan.
»Genau. Drakte hat es herausgefunden. Er hatte eigentlich andere Pflichten übertragen bekommen, aber er stammte aus dieser Region und wollte nicht zulassen, daß Khodrak mit seinen Lügen durchkommt. Es wurde sein persönlicher Feldzug, obwohl ich dagegen war. Nachdem er im Süden seine Arbeit für uns abgeschlossen hatte, durchstreifte er diesen Bezirk, um die echten Daten zu sammeln. Als er herausfand, daß einer seiner Jugendfreunde inzwischen Tuans Assistent war, hielt er das für eine schicksalhafte Fügung und glaubte, er müsse seine Erkenntnisse an diesen Chao weiterreichen. Und Chao war auch sofort einverstanden; er sagte sogar, er würde Drakte im Gegenzug etwas genauso Wertvolles geben.«
»Aber die beiden wurden angegriffen.«
»Es muß eine Falle gewesen sein. Aus Sicht eines Mannes wie Tuan hatte Chao Verrat begangen. Chao kam ums Leben, und Drakte wurde schwer verletzt. Das Lotusbuch, das er bei sich trug, ging verloren.«
»Wie genau ist Chao gestorben?«
»Er wurde von hinten erstochen, mit einer breiten Klinge, wie von einem Schlachtermesser. Es könnte auch eine Axt gewesen sein. Passiert ist das Ganze in einer Garage. Chao war sofort tot. Falls Drakte zu uns gekommen wäre, hätten wir ihn wahrscheinlich retten können. Aber statt dessen ist er zu euch geflohen.«
»Offenbar schließen Sie aus, daß die beiden sich gegenseitig verwundet haben könnten.«
»Dieser Mistkerl Tuan muß dahintergekommen und stinkwütend auf Chao gewesen sein. Chao hätte ihn ruinieren können. Die einfachste Lösung für Tuan wäre gewesen, alle beide zu ermorden. Er war in jener Nacht in Amdo und hat Gespräche wegen der Klarheitskampagne geführt. Er konnte Chao loswerden, es den Reaktionären in die Schuhe schieben und den Mann einen Märtyrer nennen.«
Sie lauschten abermals den Grillen. Der Tiger deutete auf eine Sternschnuppe.
»Warum reden Sie mit mir?« fragte Shan erneut.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Wegen dieses Obersts. Da hinten ist diese Frau, die wie eine Nonne spricht und aus dem niedergebrannten Dorf stammt. Sie behauptet, wir dürften uns Lin nicht ohne deine Zustimmung holen.«
Sie schwiegen wieder eine ganze Weile. »Diese Leute wollten doch nur ihren Gott erneuern«, sagte Shan traurig und sehnsüchtig.
»Und ich wollte doch nur mit meinem Vater Gerste anbauen«, erwiderte der gefürchtete Anführer der purbas in beinahe gleichem Tonfall.
»Dieser Gott muß im Licht, nicht im Schatten zusammengefügt werden«, sagte Shan und schaute verwirrt gen Himmel. Die Worte waren ihm völlig unwillkürlich entschlüpft. Er hörte den purba -General seufzen und wartete auf eine Antwort, doch es kam keine. Als er den Kopf wandte, war der Tiger nicht mehr da.
Die dropkas hatten sich in ihre Zelte zurückgezogen, und Winslow saß mit Nyma, Lhandro und Somo beim Feuer, als Shan zurückkehrte. Somo bat Shan, noch einmal alles zu wiederholen, was er im gompa gesehen hatte, und dann gingen sie ihren gemeinsamen Plan von vorn durch. Alles war bereit, aber niemand hatte vorausgesehen, daß Lokesh nicht laufen konnte.
»Das«, sagte Winslow mit einem Lächeln, »muß der Grund sein,
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