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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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falsche Fährte im Süden legen, aber etwas hat er zurückbehalten.«
    Er gab den Beutel Tenzin, der ihn öffnete und hineinblickte.
    Shan hörte, wie Tenzin unwillkürlich den Atem anhielt, und sah, wie das Gesicht des Mannes in sich zusammenzufallen schien. »Die Kette habe ich von meinem Großvater bekommen«, flüsterte der Tibeter. »Er sagte, sie sei das einzig Wertvolle, das ein Mönch besitzen solle, weil sie die Verbindung zu seinem Gott darstellt.«
    Tenzin wickelte sich die Perlen um die Finger.
    »Hör du mir gut zu«, sagte Shan. »Du mußt ihnen sagen, daß du diese Rede halten wirst. Und zwar morgen. Du mußt noch einmal den Abt spielen, nur für ein paar Minuten.«
    Dann beugte er sich vor und erläuterte Tenzin flüsternd den Plan.
    Es war schon dunkel, als Shan sich in den hinteren Teil des Lagers begab, um ein wenig unter den Sternen spazierenzugehen, doch als er an den dropka-Zelten bei der Yakherde vorbeikam, erregte ein merkwürdiges Geräusch seine Aufmerksamkeit.
    »Hamm, hamm en da renng«, rezitierte eine junge Stimme mit seltsamer Betonung. Es klang wie ein Mantra, allerdings wie eines, das Shan noch nie gehört hatte. Er ging um das Zelt herum und sah eine Gruppe dropkas an einem riesigen Feuer aus Yakdung sitzen, neben dem Winslow stand. Shan erschrak über diese Sorglosigkeit. Sie hatten ausdrücklich vereinbart, daß der Amerikaner das Versteck auf dem Berggrat keinesfalls verlassen würde. Dann jedoch sah er am Rand des Kreises zwei schlanke Männer stehen, die das gompa beobachteten. Einen der beiden erkannte er: Es war einer der finster blickenden purbas , die er mit Tenzin in Yapchi gesehen hatte.
    Winslow begrüßte Shan mit einem Grinsen. Einen Moment lang glaubte Shan, der Amerikaner würde ihm zuwinken. Dann jedoch erkannte er, daß Winslow den dropka beim Singen dirigierte.
    »Wörr da diehr end nat'lope plaiai«, fuhr der Sänger fort. Es war ein amerikanisches Lied, vorgetragen in einer ungefähren Annäherung an den englischen Text, einer jener Westernsongs, die aus den öffentlichen Lautsprecheranlagen der chinesischen Züge erschallen durften: Home, Home on the Range.
    Als Shan sich am Feuer niederließ und versuchte, sich von der Stimmung der Gruppe anstecken zu lassen, wuchs statt dessen seine Sorge um den Amerikaner. Hier im Lager war es zu gefährlich für Winslow, auch wenn er unter der Obhut der purbas stand. Ohne seinen Paß besaß er keine Identität und würde als Illegaler behandelt werden. Genau wie Shan existierte Winslow nun nicht mehr, und falls er erwischt wurde, könnte man ihn spurlos verschwinden lassen.
    Im trüben Licht jenseits des Feuers bemerkte Shan einen etwa gleichaltrigen, mürrisch wirkenden Tibeter, der hinten auf einem Pferdekarren zwischen zwei purbas hockte, die Shan aus dem Versteck kannte. Shan stand auf und ging langsam um die dropkas herum, aber als er sich dem Karren näherte, stellte einer der purbas sich ihm in den Weg. Der Mann auf der Ladefläche starrte Shan unter hängenden Lidern an, grüßte ihn nicht und ließ auch sonst keinerlei Regung erkennen. Im Feuerschein sah Shan zwei tiefe vernarbte Furchen auf seiner Wange und das Funkeln in seinem Blick. Es kam ihm sehr bekannt vor. Die gleichen Augen hatte Shan auf den thangkas der grimmigen Schutzdämonen gesehen.
    Er trat noch einen Schritt vor, und die Hand des purba schloß sich wie ein Schraubstock um seinen Arm und drückte ihn gegen etwas, das der Mann unter der Jacke trug. Ein Pistolengriff in einem Schulterholster. Shan erstarrte, wich zurück und betrachtete die Narben des Fremden. Aus irgendeinem Grund wußte er, daß dies der Tiger sein mußte, jener legendäre purba-Führer mit den Striemen im Gesicht. Die zwei meistgesuchten Männer von ganz Tibet befanden sich beide bei Khodraks gompa.
    Shan kehrte zur anderen Seite des Feuers zurück und ging hinaus auf die Ebene. Dort im Schutz der Nacht bemühte er sich, all die neuen Befürchtungen zu unterdrücken, die das Auftauchen des Tigers in ihm geweckt hatte. Eine Eule rief, und die Berge am Horizont schimmerten im Mondlicht. Die Ankunft des purba - Führers beunruhigte Shan ebensosehr, als hätten die Kriecher sich aus den Flammen des Feuers erhoben. Der Tiger war nicht hier, um Shan zu helfen. Der Tiger war als Mann der Tat bekannt. Es hieß, seine Mutter sei Moslemin gewesen. Moslems glaubten an Vergeltung. Der Tiger war ein so berühmter, allseits gesuchter Staatsfeind, daß sich durchaus eine ganze Armee von Kriechern

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